Opium oder Revolution?. Sozialistische Christen in Zeiten der Unidad Popular

Ende 1971 marschiert ein bekannter Vollbart durch Santiago. Fidel Castro, das kubanische Staatsoberhaupt ist zu Besuch und will auf einer Rundreise den „chilenischen Weg in den Sozialismus” aus nächster Nähe kennenlernen. Anders als der chilenische Präsident Salvador Allende ist Castro 1959 nicht an der Wahlurne, sondern nach erfolgreichem Guerillakampf, an die Macht gekommen.

 

 

Während in Chile die Landreform und Verstaatlichungen mühselig innerhalb der bestehenden Gesetze vorangebracht werden, setzt die Kubanische Revolution von Beginn auf die Brechstange, um die Oligarchie und das koloniale Erbe zu beseitigen. Rabiat gehen die barbudos dabei auch gegen die Katholische Kirche vor, die allesamt als Reaktionäre abgestempelt werden.

 
 

Doch hier in Chile tritt Castro mit seiner Religionskritik etwas vorsichtiger auf. Es soll da ein Gruppe namens „Christen für den Sozialismus” geben, die sich mit ihm treffen möchte. Tagelang hält er erfolglos Ausschau nach schwarzen Soutanen. Und als es endlich zu einer Begegnung kommt, entfährt dem Comandante folgendes:

 

„Ihr bringt mich ganz schön durcheinander. Als Gruppe revolutionärer Pfaffen seid ihr ja überhaupt nicht zu erkennen. Dafür sind mir auf der Treppe der Technischen Universität vier Typen mit langen schwarzen Gewändern begegnet. Ich war mir sicher: dass müssen jetzt die Priester sein. Ich grüße sie, dann schau ich noch mal genau hin und erst da merke ich, dass sind ja die Sänger von Quilapayún, dieser Folkloregruppe!“

 

Eine Kirche auf Selbstfindungstrip


 

Nicht nur die religiöse Kleiderordnung hat sich Anfang der 1970er Jahre verändert. Die Katholische Kirche steckt mitten in einem Erneuerungsprozess – und das nicht ganz freiwillig. Die Trennung von Kirche und Staat ist vielerorts bereits vollzogen, in Chile seit 1925. Die Diözesen verlieren Einfluss und Macht. Um weiterhin eine relevante soziale Kraft zu bleiben, müssen die Pastoren und Bischöfe Antworten auf die Befindlichkeiten ihrer Schäfchen finden.
 

 
Entgegen vieler Vorstellungen sind Priester und Seelsorger damals weder im ländlichen Raum noch in den wachsenden Elendsvierteln der Städte sonderlich aktiv. Doch eben hier entstehen unter Landarbeiter*innen und Siedler*innen neue Organisationen, die für ein würdevolles Leben auf Erden eintreten. Kurzum, die Basis bröckelt. So beruft Papst Johannes XXIII von 1962 bis 1965 das II. Vatikanische Konzil ein. Die kirchlichen Dogmen sollen erneuert werden. Vor allem christliche Basisgemeinden aus Südamerika nutzen den Dialog, um offen für mehr weltliches Engagement von Geistlichen zu werben, besonders bei der Bekämpfung der Armut. So formuliert der peruanische Theologe Gustavo Gutierrez:

 

„Man kann den Armen nicht sagen, dass Gott sie liebt, und sie gleichzeitig verhungern lassen.“

 

 

Das Konzil und eine 1968 im kolumbianischen Medellin stattfindende Lateinamerikanische Bischofskonferenz sind wichtige Impulse, um die christliche Botschaft neu zu interpretieren. Diese sogenannte Befreiungstheologe würde bald auch das Selbstverständnis vieler europäischer Priester prägen.

 

 

In der Alten Welt entstehen bereits in den 1950er Jahren Strömungen wie die Nouvelle Theologie oder Organisationen wie die Emmaus-Bruderschaft, die eine Hinwendung zu weltlichen Problemen propagieren. Auch Seminaristen aus Lateinamerika debattieren früh an theologischen Fakultäten mit, besonders in Belgien und Frankreich. Unter ihnen ist Gutierrez aber auch der Kolumbianer Camilo Torres, der später als Guerilla-Priester bekannt wird und der Chilene Mariano Puga. Puga beschreibt den Aufenthalt in Europa als eine Zeit, in der er viele Gewissheiten seines Glaubens hinterfragt:

 

 

„Ich wurde nach Paris entsandt, um religiöse Zeremonien und Riten aus der Zeit vor dem 2. Vatikanischen Konzil zu studieren. Beim Studium dieser Quellen beschäftigte ich mich auch mit der Liturgie im Evangelium. Ich las über die ersten christlichen Gemeinden, von Menschen, die das Evangelium Christi leben wollten. Von Menschen, die, um Christ zu sein, ihren Besitz verleugnen und teilen mussten. Einem reichen Mann wurde gesagt, dass er kein Jünger Jesu sein könne, wenn er seinen Besitz nicht mit den Armen teile.“

 

Für junge Priesteranwärter aus Europa haben die Empfehlungen des II. Vatikanischen Konzils noch weitere, ganz praktische Konsequenzen: sie werden dazu ermutigt nach Lateinamerika zu gehen, wo gerade im ländlichen Raum dringend Priester gesucht werden. Unter ihnen ist auch der junge Jesuit Toon Mondelaers aus dem belgischen Löwen:

 

 

„Das [II. Vatikanische Konzil] war mir gar nicht so wichtig. Aber Lateinamerika brauchte Priester. Ich wollte einfach raus aus Belgien und so bin ich nach Chile gegangen. Als Priester hast du keine Ahnung von Politik, Soziologie, usw. Alles ist christliche Lehre, Philosophie, Dogmen. Ich kam als Mann guten Willens nach Chile, mit der Überzeugung, dass die Kirche immer Recht hat.“

 

Und nicht nur Männer brechen nach Chile auf. Aus christlicher Überzeugung, aber nicht als Nonne sondern als Sozialarbeiterin macht sich auch die damals 30-Jährige Maruja Braekman auf den Weg Richtung Süden.

 

 

„Mir wurde mit einem Mal klar, dass ich etwas anderes mit meinem Leben anfangen wollte. In Chile zog ich mit drei oder vier anderen Frauen zusammen, es war eine Art Experiment. Am Ende blieb ich zehn Jahre. Vor dem Austausch konnte man angeben, in welches Land man gehen wollte. Just in diesem Moment trafen wir einen Belgier, der in Chile lebte und uns etwas über das Land erzählte. Er war wohl recht überzeugend, ich wählte Chile.“
 

Revolution in Freiheit

 

 

Gebremst wird der befreiungstheologische Aufbruch in Chile zunächst von den regierenden Christdemokraten (1964-1970). Die Regierung von Präsident Eduardo Frei bringt Alphabetisierungsprogramme und eine Reihe sozialer Reformen auf den Weg, ist jedoch stets um einen Klassenausgleich bemüht. Der Staat interveniert, die herrschenden Verhältnisse aber werden nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Einigen politisch engagierten Christen, war das zu wenig, analysiert der spanische Historiker Mario Amorós in seinem Artikel „La Iglesia que nace del pueblo“:

 

 

„Obwohl sich einige Christen seit langem für die sozialistische Umgestaltung der chilenischen Gesellschaft eingesetzt hatten – dafür gibt es wohl kein besseres Beispiel als Clotario Blest, ehemaliger Seminarist und erster Präsident des Gewerkschftsdachverbands CUT –, war 1965 ein ganz entscheidendes Jahr für den ‚Dialog‘ zwischen Marxisten und Christen in Chile. Hatten die Gläubigen im September 1964 noch massiv für Eduardo Frei gestimmt, um den Sieg Allendes im Rahmen einer heftigen Terrorkampagne gegen den „atheistischen Kommunismus“ zu verhindern, so demonstrierten Marxisten und Christen im April und Mai des folgenden Jahres zum ersten Mal vereint, um die nordamerikanische Invasion der Dominikanischen Republik zu verurteilen, die den verfassungsmäßigen Präsidenten Juan Bosch stürzte und dem repressiven Regime von Joaquín Balaguer den Weg ebnete.“

 

Es bleibt nicht bei Demonstrationen. Im 11. August 1968 besetzt eine Gruppe die sich Iglesia Joven (Junge Kirche) nennt für 14 Stunden die Kathedrale Santiagos. Öffentlichkeitswirksam halten die mehr als 200 Beteiligten eine Messe gegen den Vietnamkrieg und für die lateinamerikanische Arbeiterklasse ab. Vor dem Gotteshaus prangt in großen Lettern ihre Botschaft: „Für eine Kirche an der Seite der Bevölkerung und ihrer Kämpfe. Gerechtigkeit und Liebe.“ Kardinal Silva Henríquez droht, unterstützt von Präsident Frei, eine gewaltsame Räumung an. Kurz vor Ablauf des Ultimatums zieht sich die Junge Kirche zurück.

 

Doch in vielen christlichen Gemeinden wächst der Unmut. Auch die chilenischen Frauen beginnen langsam an moralreligöse Dogmen zu zweifeln und interessieren sich zunehmend für politische Fragen und ihre sozialen Rechte. Auch in den Dörfern im Süden des Landes, sei das spürbar gewesen, erinnert sich Maruja Braekman. Und manchmal hilft sie ein bisschen nach…

 

 
„Also das war noch unter der Präsidentschaft von Frei. Da begannen die bereits existierenden Mütterzentren gut zu funktionieren. Aber die Frauen, die dorthin kamen, hatten viel Aufholbedarf. Sie wussten wenig über die politische Lage in Chile. Also brachte ich ihnen das Stück für Stück näher, beim Stricken. Ganz allmählich lief das, ganz behutsam – aber es funktionierte.”

 

 

Schneller voran schreitet dagegen die Spaltung der Christdemokraten. Das schlechte Abschneiden bei den Parlamentswahlen 1969 und ein brutaler Polizeieinsatz gegen urbane Landbesetzer in der Nähe von Puerto Montt bringt zwei linke Strömungen dazu, mit der Partei zu brechen. Die Bewegung der Unitären Volksunion (MAPU) und Izquierda Cristiana (Christliche Linke) schließen sich schnell der Wahlkampagne des Linksbündnisses Unidad Popular (UP) an. Junge Geistliche, die sich selbst „Arbeiterpriester“ nennen, beteiligen sich am Wahlkampf. Unter ihnen ist auch der junge Katalane Antoni Llidó der in einem Brief an seine Familie, amüsiert die politische Überzeugungsarbeit beschreibt:

 

„Wir haben die alten Betschwestern davon überzeugt, für Allende zu stimmen. Wenn nicht, seien sie hoffnungslos verdammt“.
 

Die Christen der Unidad Popular

 

Nach dem Wahlsieg der UP ziehen sich die religiösen Wahlhelfer nicht etwas auf die Kanzeln zurück. Die Vereinbarkeit von Glaube und marxistischen Überzeugungen ist Thema vieler Debatten, so auch auf einem richtungsweisenden Treffen von 80 engagierter Priester im Frühjahr 1971. Mariano Puga war dabei:

 

 

„Gemeinsam mit einigen Priestern aus den Armenvierteln trafen wir uns, um darüber nachzudenken, was unsere Aufgabe in einem sozialistischen Chile seien würde. So kamen 80 Priester zusammen. Wir diskutierten über die Herausforderungen, Diener eines befreienden Evangeliums Jesu im Sozialismus zu sein, der nach den gewonnen Wahlen nun aufgebaut werden sollte. Die Journalisten gaben uns den Namen „Christen für den Sozialismus“. Denn jedes mal wenn sie uns fragten, welcher Partei wir angehörten, antworteten wir: ‚keiner, aber wir sind für den Sozialismus.‘ ‚Aber verurteilt die Kirche den Sozialismus nicht? [fragten die Journalisten und wir antworteten:] ‚Die Praxis des Sozialismus wird nirgendwo verurteilt. Denn sie [die regierende UP] will das selbe, was auch Jesus wollte: eine Welt der Gleichen, eine brüderliche Welt.‘ Der Sozialismus steht dem Christentum näher als der Kapitalismus.“

 

 

Nur zwei Wochen nach dem Treffen von Los Ochenta, läuft Kardinal Raul Silva Henriquez auf der 1.Mai-Demonstration im Gewerkschaftsblock mit – die christlichen Sozialisten scheinen an Einfluss zu gewinnen. Noch nur kurze Zeit später, verurteilen die chilenischen Bischöfe in einem gemeinsamen Text jegliche politischen Aktivitäten von Geistlichen und warnen davor mit den sozialistischen Kräften zu kollaborieren.

 

Doch die elegante Drohung verfängt nicht. Im Gegenteil, wenig später gründet sich eine zweite Gruppe, die diesmal 200 Geistliche umfasst, und die im Gegensatz zu Los Ochentas nicht so stark auf politische und soziale Interventionen setzt, sondern sich kritisch mit den internen Strukturen und Konzepten der Katholischen Kirche auseinandersetzt. Sie argumentieren dabei zunächst recht bibeltreu, dass die Kirche den Anspruch haben müsse, „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ zu schaffen. Daraus ziehen die kritischen Theologen wiederum ganz praktische Schlüsse: alle Christen sind verpflichtet, auf der Seite der Befreiung zu kämpfen und sich gegen den „Götzen“ des Marktes zu richten.

 

 

Mariano Puga nimmt intensiv teil an dieser Debatte. Im Jahr 2016 erinnert er im Interview mit dem linken Theologen Michael Ramminger auxh an die Beiträge internationaler Geistlicher, unter ihnen der brasilianische Intellektuelle Hugo Assmann, die während der Unidad Popular in Chile lebten. Puga erinnert sich wie Assmann und andere,

 

„…die sich mit den Lehren des Marxismus und der großen Revolutionen gut auskannten, uns unbeschreiblich gut getan haben. Sie waren es, die uns über die russische Revolution, über die sozialistischen Republiken Europas und andere Tendenzen informierten.“

 

Der belgische Jesuit Toon Mondelears bekommt davon im Süden Chiles zunächst wenig mit. Sein Auftrag ist es, die Studierenden von Concepción zu treuen Besucher*innen der universitären Pfarrkirche zu machen. Und tatsächlich bekommt er viel Besuch, vor allem von Unterstützer*innen der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR).

 

 
„Diese Bewegung eroberte immer mehr Einfluss und selbst meine Student*innen und die Katholik*innen in der Universitätsgemeinde standen unter dem Einfluss der MIR. Einige Studierende zum Beispiel, die der MIR beigetreten waren, wurden in Kuba als Kämpfer*innen ausgebildet. Sie schrieben mir Briefe. Nach der Ausbildung kamen sie zurück. So kamen immer mehr Studierende unter den Einfluss der MIR und marxistischer Ideen. Uns [Jesuiten] lehrten sie aufmerksam zu sein und die Realität so zu sehen, wie sie ist, und nicht doktrinär darauf zu beharren, alles zu wissen. Sie zeigten uns die Wirklichkeit so wie sie war. Es war der Beginn eines großen Widerspruchs: wir gaben in der Pfarrkirche Marx-Lesekreise zu organisieren, für die Studierenden der Universitätsgemeinde.“

 

Fasziniert beobachtet der deutsche Ökonom und Theologe Franz Hinkelammert diesen christlich-marxistischen Dialog, der im September 1971 in der offiziellen Gründung der Gruppe Cristianos por el Socialismo (CpS), also Christen für den Sozialismus mündet. Hinkelammert ist als Fachkraft der Konrad-Andenauer-Stiftung (KAS) im Land. Die sei damals interessiert gewesen, an der reformistischen Linie der chilenischen Christdemokraten und offen für einen Dialog mit linken Ideen. Hinkelammert widerum anaylsiert, beobachtet und diskutiert an den Schnittstellen christdemokratischer Gewerkschaften, marxistischer Forschungsgruppen und kritischer Ökonomen. Überall dort wo Bewegungen entstehen, will er dabei sein. Und auch den Staatsbesuch des kubanischen Revolutionsführers Castro im November 1971 verfolgt er sehr genau:

 

 

„Das war auch interessant, als Fidel Castro in Chile war. Hinterher wurde die Politik gegenüber den Kirchen völlig verändert in Kuba. Und er musste jetzt sprechen, und welches Beispiel fiel ihm ein – das waren die Christen in der ersten zwei Jahrhunderten gegenüber dem römischen Imperium, die da verfolgt wurden. Das war das Bild, von dem er immer anfing oder häufig anfing. Aber je mehr er das machte, desto mehr hat er das auch ernst genommen für sich selbst. Es war eine hochinteressante Sache, diese Präsenz von Fidel Castro in Chile. Den Sozialismus sowjetischer Art konnte er da nicht vorlegen, denn es handelte sich nicht darum. Und da war er völlig klar und hat das respektiert. Für ihn war das absolut akzeptierbar.“

 

Auf Einladung Castros besucht im Februar 1972 eine CpS-Delegation Kuba. Die Besucher sind bei Zuckerernten dabei und machen sich auf einer Rundreise mit der sozialen Realität der Karibikinsel vertraut. In einer gemeinsamen Abschlusserklärung verurteilen sie den Kapitalismus als treibende Kraft der Unterentwicklung und räumen eine historische Mitschuld der Kirche ein – sehr zum Unwohl des traditionellen Klerus in Chile.
 

Vom revolutionären Volkskörper zur Theologie des Massakers


 

Als die CpS für April 1972 ein erstes lateinamerikanisches Treffen revolutionärer Christen in Santiago organisiert, geht die Kirchenspitze auf Distanz und warnt die Diozösen der Nachbarländer vor einer Teilnahme. Dennoch gibt es prominente Untersützung, u.a. vom mexikanischen Bischoff Sérgio Méndez Arceo. Am Ende beteiligen sich über 400 Delegierte und Gäste aus Lateinamerika und der Welt an der Veranstaltung.

 

 

Beide Seiten vermeiden in den folgenden Monaten einen offenen Schlagabtausch. Die Unterschiede zwischen Befreiungstheologie und der – wie Hinkelammert es nennt – „Theologie der Unterdrückung“ treten jedoch trotzdem zu Tage. Während die SpS die kapitalistische Gesellschaft als strukturelle Gewalt begreift, verteidigt Kardinal Silva Henriquez in einer Osterbotschaft diskret die gesellschaftliche Ungleichheit:

 

„Wenn wir den Wert des Eigentums verteidigt haben, so haben wir ganz besonders an die Möglichkeit und das Recht aller gedacht.“

 

Auf den Aufruf der CsP an alle Christen, sich aus Nächstenliebe am Kampf für eine gerechtere Welt zu beteiligen, antwortet der Kardinal im Juni 1972 mit einer langen schriftlichen Erklärung, in der es u.a. heißt:

 

„Die Existenz einer klassenlosen Gesellschaft ist nach der kirchlichen Doktrin utopisch und nicht realisierbar, denn sie gründet sich weder auf die Natur des Menschen noch auf die der Gesellschaft: sie sieht von einer für den sozialen Fortschritt notwendigen Trennung und Spannung ab, die nach dem Urteil der Kirche in der Natur des Menschen und der Gesellschaft selbst wurzeln.“

 

Ein Dorn im Auge sind dem konservativem Klerus vor allem Arbeiterpriester aus anderen Ländern. Ihr Engagement wird als Einmischung verstanden und in der Weihnachtsbotschaft Ende 1972 ruft Silva Henrique dazu auf,

 

„zu verhindern, dass ausländische Werte, Gebräuche und Mächte uns vergessen machen, was unser ist, diese Gesamtheit, die wir Chilenität nennen.“

 

 

Exemplarisch für diese Linie stehen die Entlassungen der katalanischen Arbeiterpriester Ignacio Pujadas und Antonio Llido, die anfangs auch des Landes verwiesen werden sollen. Doch Llido bleibt seiner Basisgemeinde O’Higgens erhalten, übernimmt dort leitende Funktionen beim MIR, gibt eine befreiungstheologische Zeitschrift heraus und koordiniert das örtliche Versorgungskomitee JAP, um bei Lebensmittelengpässen eine gerechte Verteilung zu gewährleisten.

 

In Temuco engagiert sich auch Maruja Braekman im örtlichen Versorgungskomitee. Im ersten Jahr ihres Aufenthalts hatte sie sich vor allem dem endemischen Problem häuslicher Gewalt gewidmet und Frauen zu mehr politischer Teilhabe angespornt. Nun ging es darum den Plan der Rechten zu vereiteln, mittels einer künstlich verknappten Grundversorgung die Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen.

 

 

„Es musste einfach Leute geben, die sicher stellten, dass auch etwas bei der Bevölkerung ankam, Es gab eine Metzgerei, einen Laden, in dem vieles verkauft wurde. Da mussten Leute sein und ein Auge auf [die Verteilung] haben. Die Ladenbesitzerin war eine Christdemokratin und ihr Mann arbeitete bei der Marine. Ich hatte da also eine Frau vor mir, die mehr als konservativ war. Sie und ihre Nachbarin waren wütend auf mich, weil ich als Mitglied des katholischen Jugendverbands (JOC) für das Versorgungskomitee JAP arbeitete.“

 

 

Überall in Chile beteiligen sich christliche Sozialarbeiterinnen und Arbeiterpriester an der mühsamen Aufgabe, die Unidad Popular gegen Sabotageakte und politische Propaganda zu verteidigen. Sie beteiligen sich an Alphabetisierungskursen, Landbesetzungen und Gewerkschaftsgündungen. In Santiago versucht sich die Gruppe der CpS zudem weiterhin als Vermittler zwischen den zunehmend polarisierten politischen Lagerm, u.a. bei den hitzigen Debatten rund um die Reform des Bildungswesens.

 

Doch die Zeit der Kompromisse ist vorbei. In der Kathedrale Santiagos werden während des Gottesdiensts Flugblätter des Arbeiterpriesters Llido verbrannt. Der chilenische Befreiungstheologe Pablo Richard beschwert sich über eine öffentliche Kampagne der Konrad-Adenauer-Stiftung gegen die sozialistischen Christen, die von der Zerrissenheit der Christdemokratie ablenken soll. Und der prominente Hassprediger Raul Hasbún untermauert am 5. September 1973 im Fernsehen die an Präsident Allende gerichtete Forderung der chilenischen Rechten: Rücktritt oder Selbstmord.

 

Sechs Tage später erschüttert ein Militärputsch Chile. Während die Armee mit Verfolgung, Mord und Folter gegen einen Teil der Bevölkerung vorgeht, sieht der Arbeiterpriester Mariano Puga schockiert, wie andere feiern:

 

 

„Ich ging durchs Zentrum [Santiagos] und kam an der Avenida República vorbei. Da stand eine Frau auf der Straße, die die chilenische Fahne schwenkte. Ich schrie sie an: „In diesem Moment bringen Chilenen andere Chilenen um. Was auch immer deine Position ist, nimm die Fahne herunter.“ Aber die Dame schwenkte weiter die Fahne. Leute tanzten auf der Straße, mit chilenischen Fahnen. Ich kam in [meinem Viertel] Villa Francia an, hier, wo nur ärmliche Hütten standen und sah etwa hundert Fahnen. Ich legte mich auf den Boden meines Zimmers und weinte. Das war mein 11. September.“

 

 

Am Abend des Putschs wird eine Ausgangssperre erlassen. Von der Straße dringt der Lärm von Panzern und Schüssen in die Wohnzimmer. Wie viele Menschen sitzt auch Franz Hinkelammert vor dem Fernseher und protokolliert fassungslos die Übertragung von Kanal 13, die einzige TV-Station die noch auf Sendung ist. Später wird er auf Grundlage der Mitschriften das Konzept einer „Theologie des Massakers“ entwickeln. An diesem Tag ist auf Kanal 13 nur eine Stimme zu hören, die von Pater Hasbún:

 

„Habt keine Furcht. Ihr seid mehr wert als ein Schwarm von Vögeln. In der Welt werdet Ihr leiden müssen, aber bewahrt den Mut. Ich habe die Welt besiegt.“

 

Vikariat der Solidariät, CpS in Europa und DEI

 


 

„Die meisten Priester der Christen für den Sozialismus wurden des Landes verwiesen oder getötet. Die Säuberungen in der Kirche, um die fortschrittlichen Priestern loszuwerden, waren tief greifend. All jene [Priester] die gemeinsamen mit der Bevölkerung in den Armenvierteln gelebt hatten, mussten das Land verlassen.“

 

Toon Mondelaers ist einer von hunderten Priestern, die nach dem Putsch in Chile unerwünscht sind. In einem Erlass vom 13. September 1973 stellt die Kirchenführung klar, dass ab sofort kein Priester mehr den Christen für den Sozialismus angehören darf. Kardinal Silva Henriquez lässt sich mit den Worten zitieren, er erhoffe sich von den Putschisten mehr als von Allende…

 

Nur wenige internationale Geistliche wagen es in Chile zu bleiben. Sie setzen ihre solidarische Arbeit in den Armenvierteln fort und vermeiden politisches Aufsehen. Auch die chilenischen Mitstreiter von CpS organisieren ihre Netz zunächst im Verborgenen. Mariano Puga beschreibt die ersten Wochen nach dem Putsch:

 

 

„Eine Reihe von Priestern gründeten in der Umgebung Santiagos ein Netzwerk, in La Legua, La Victoria, Villa Francia, Pudahuel Sur, La Pincoya. Und die verfolgten Parteien begannen uns zu fragen, ob wir sie verstecken könnten: ‚Hey, wir waren doch gemeinsam dabei, könnt ihr uns helfen unterzutauchen? Der da, den suchen sie, um ihn umzubringen.‘ Und ich sagte: ‚Glaubst du, dass der Verfolgte Christus ist? Glaubst du es, oder nicht? Wenn nicht, dann frag mich nicht. Glaubst du es?‘ ‚Ja [war die Antwort] und sind Sie bereit diese Person für eine Weile zu verstecken?‘ [Die Antwort war] ‚Ja, bringt ihn zu mir.‘ Da ich ganz gut mit Sprachen konnte, nahm ich Kontakt mit den Botschaften auf. Die Botschafter sagten zu uns: ‚Wir laden die Bullen [die vor der Botschaft patrouillieren] zum Frühstück ein und ihr bringt sie derweil zum Hintereingang rein.‘ Das Vikariat der Solidarität begann sich zu formieren und in diesen christlichen Gemeinschaften begannen Räume für den Schutz der Menschenrechte zu entstehen.
 

 

Heute wird diese Geschichte oft so erzählt, als ob das Vikariat der Solidarität auf eine persönliche Initiative von Silva Henriquez zurückginge. Tatsache ist, dass der Kardinal ab einem bestimmten Zeitpunkt seinen politischen Einfluss nutzte, Verfolgten der militärisch-zivilen Diktatur zu helfen und die Verbrechen international bekannt zu machen. Aber er war kein Regimegegner der ersten Stunde – und Menschen, die im bewaffneten Kampf gegen die Diktatur ihr Leben riskierten, konnten von Silva Henriquez nie Hilfe erwarten.

 

In Europa sind viele der ehemaligen internationalen Priester in Chile-Komitees aktiv. Sie vermitteln Chilen*innen, die ins Exil gehen müssen, Wohnungen, Arbeits- und Studienplätze. Und sie versuchen sich an einer Fortsetzung der befreiungstheologischen Arbeit, erzählt Toon Mondelaers

 

 

„Gemeinsam gründeten wir dann die europäische Bewegung der Christen für den Sozialismus. Das war unser Beitrag. Wir haben auch etwas in Chile beigetragen und doch waren eher Nutznießer der chilenischen Geschichte. Chile wurde eher von Chilenen verändert, von oppositionellen Parteien, usw. Weniger von uns. Ich habe in Lateinamerika gelernt, was Befreiungstheologie ist, welche anderen Lesarten der Bibel und des Evangeliums es gibt, usw.“

 

 
Auch Franz Hinkelammert setzt seine theologisch- ökonomischen Reflexionen fort. In Costa Rica gründet er gemeinsam mit Pablo Richards (dem ehemaligen Generalsekretär der Christen), Hugo Assmann und anderen das interdisziplinäre und ökumenische Forschungsinstitut (DEI). Von hier aus entwickelt er seine Überlegungen zur Götzenkritik weiter und entwickelt wichtige Beiträge zur Globalisierungskritik.

 

Vereinzelt lassen sich vor allem in Europa heute noch Grüppchen finden, die sich als Christen für den Sozialismus bezeichnen. Eine politische Rolle spielen sie im Gegensatz zur befreiungstheologischen Strömung der katholischen Kirche jedoch nicht mehr. Deren Vertreter*innen wiederum ist meist der „sozialistische Kompass“ abhanden gekommen. Dabei seien die CpS nicht an ihren „marxistischen Instrumentarien“ gescheitert, findet der kritische Theologe Michael Ramminger, sondern an dem gewaltsamen Putsch und dem Widerstand der kirchlichen Hirarchien. Sich intensiver mit den Ideen der Gruppe zu beschäftigen, lohne jedoch nach wie vor:

 

„Für alle ChristInnen allerdings, die noch um die biblische Vorstellung einer Welt in Autonomie und Egalität wissen, bleiben die CPS eine, wie es in der politischen Theologie heißt, ‚gefährliche Erinnerung‘ im doppelten Sinne. CPS erinnert daran, dass der biblische Weg der Gerechtigkeit deshalb gefährlich ist, weil er den eigenen Glauben und das eigene Leben existentiell herausfordert und weil er zu einem Weg werden kann, der das eigene Leben gefährdet. Das ist der Preis der Glaubwürdigkeit, ein Preis, den übrigens alle einsetzen müssen, die sich für eine gerechte Welt einsetzen.“