„Ein würdevolles Zuhause.” Urbane Siedler, Projekte und städtische Utopien in Zeiten der Unidad Popular.

Ein Meer aus Marmor und Schlamm: Santiago um 1910

Im Jahr 1910, im selben Jahr, in dem Chile den 100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiert, schreibt der Pädagoge Alejando Venegas Sinceridad, eine Reihe von Briefen, die an den Präsidenten der Republik, Ramón Barros Luco, gerichtet sind. Darin prangert er die mangelhafte Stadtentwicklung an. Den Ursprung sieht er darin, dass diese Aufgabe leichtfertig den Gemeinden übertragen wurde. Sie seien so zu einer einflussreichen Macht bei Wahlen und in der Wirtschaft geworden – fest in den Händen skrupellosester und unmoralischer Gruppen. Obendrein seien die Gemeinden dafür verantwortlich, dass die chilenischen Städte, insbesondere Santiago, zu einer einzigen:

 

 

„Masse aus Marmor und Schlamm werden, aus Villen, die Paläste seien wollen und aus Slums, die wie Schweineställe aussehen. Hier eingebildete Größe, da eine Kleinheit, die beschämend ist“.

 

Während Chile sich darauf vorbereite, „mit Würde“ sein hundertjähriges Jubiläum als unabhängige Nation zu feiern, sei die Hauptstadt nicht auf die Feierlichkeiten vorbereitet. Santiago gelinge es nicht:

 

„seine schlecht gepflasterten und staubigen Straßen, stinkenden Gräben, schrecklichen Mietskasernen zu verbergen und seine endlosen und ungepflegten Slums zu verstecken“.

 

Etwa zur gleichen Zeit schreibt der Schweizer Reisende Albert Malsch ironisch, dass in Chile alles „Schein“ sei, und beschreibt unverblümt die Situation der so genannten „conventillos“:

 

 
„Dort, eingesperrt wie die Chinesen, versammeln sich die Elendsten um einen Innenhof, wo jede Familie ein Abteil bewohnt. Man nennt dies „conventillo“, eine Art Phalanster, in dem sich Schweine, Hühner und Kinder unter den Müll mischen. Wolken von Fliegen schlängeln sich über die rötlichen Gräben, die Richtung Eingang fließen und landen auf den Mündern der Neugeborenen. Sie alle schlafen auf der Stampferde. Das Essen wird in einem alten Eisentopf zubereitet, und es gibt kein anderes Wasser als das der Abwasserkanäle, die den Typhus und Tod mit sich bringen.“

 

 
Die Hundertjahrfeier hat trotzdem ihr gutes: verschiedene Urbanisierungsprojekte werden aufgenommen. Mehrere Eisenbahnniederlassungen werden geschaffen, um die Stadt mit den Vororten zu verbinden. Eine breite Straße von der Plaza Baquedano – seit dem vergangenen Jahr bekannt als Plaza de la Dignidad – ins Vorgebirge der Anden, den Cajón del Maipo, wird eingeweiht. Im Norden der Stadt entsteht ein neuer Bahnhof: die Estación Mapocho. Gemeinsam mit dem kurz zuvor eröffneten Museum der Schönen Künste im Stadtpark Parque Forestal bringt sie etwas modernistisches Flair in die Hauptstadt.
 

 
Doch 1929 kommt es zum Debakel: Infolge der Weltwirtschaftskrise gehen die Salpeterbergwerke im Norden Chiles in Konkurs und Tausende von Arbeitern ziehen auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten in die Städte. Hier treffen sie auf die armen Bauern und Bäuerinnen, die vor den feudalen Verhältnissen auf dem Land fliehen.

 

Santiago zieht als Industriezentrum das größte Kontingent an Arbeitern, Arbeitslosen und armen Bauern an. Nur dank der gegenseitiger Hilfe gelingt das Überleben. „Ollas comunes“ genannte Volksküchen schießen aus dem Boden. Aber das Problem der Unterbringung und des Zugangs zu Dienstleistungen bleibt. Vielorts herrschen Krankheit und Tod.

 

Urbane Besetzungen und staatlicher Wohnungsbau

Tausende neuer Siedler*innen, die auf der Suche nach Arbeit und Bildung in die Städte kommen, bauen sich Unterkünfte, wo sie können, meist auf unerschlossenem öffentlichem Land. Anfang der 1950er Jahre lebte ein Drittel der Einwohner Santiagos in Slums, in Chile bekannt als „poblaciones callampa”, elende Orte ohne Zugang zu Dienstleistungen und Grundversorgung, erklärt der chilenische Soziologe Mario Garcés.

 

 

„Was Studien und Statistiken betrifft, so wurde 1952 die erste nationale Wohnungszählung in Chile durchgeführt. Und diese Volkszählung bildete bereits gut die Realität ab. Es zeigte sich, dass auf nationaler Ebene das vom Wohnraumdefizit ein Drittel aller Chilenen betroffen waren, also eine Größenordnung von 30 Prozent. In meinen Studien, vor allem Untersuchungen in Santiago, stellte ich fest, dass das Defizit sogar 36 Prozent erreichte. Das bedeutet, dass, in Santiago, das Anfang der 1950er Jahre 1,5 Millionen Einwohner hatte, eine halbe Million in Slums oder Mietskasernen lebte. In Chile gibt es dafür einen euphemistischen Ausdruck: „Ich wohn3 in der Nähe…“

 

 

Diese überwältigenden Zahlen spiegeln sich auch in politischen Aktionen weiter, sowohl seitens des Staates als auch bei den betroffenen Bevölkerungsgruppen, die sich immer besser organisieren. Die Regierung des Präsidenten Carlos Ibáñez del Campo ruft 1953 die staatliche Wohnungsbaugesellschaft (Corvi) ins Leben. Ziel der Organisation ist es landesweit die Elendssiedlungen zu beseitigen und Wohnraumlösungen anzubieten. Doch obwohl Corvi mehrere Zehntausend Menschen umeiedelt – auch unter der Nachfolgeregierung Jorge Alessandris (1958-1964) -, hat die Institut Schwierigkeiten mit den sozialen Bedürfnissen Schritt zu halten, sagt Mario Garcés.

 

 

„Das Problem ist, dass der Wohnungsbau von Corvi nur für die den Teil der armen Bevölkerung ausreichte, der zumindest über eine Beschäftigung und einige Ressourcen verfügte und somit Teil dieser Pläne werden konnten. Die Armen aus den poblaciones callampas und conventillos hatten keine Möglichkeit, sich für Wohnungen zu bewerben. Die Arbeit des Corvi hatte viele Grenzen und Schwächen. Dies führte 1957 zu einer großen Invasion urbaner Flächen. In Chile wird diese Aneignung als „Belagerung“ oder „Landraub“ bezeichnet. Aus diesen Aktionen ging die Siedlung La Victoria hervor. Ich denke, dass da der eigentliche Konflikt mit dem Staat seinen Anfang hat. Die Botschaft der Besetzer von La Victoria an den Staat war eindeutig: „Wenn ihr nicht baut, wenn der Staat nicht baut, werden wir unsere Häuser eben einfach selbst bauen“.

 

Tatsächlich übernehmen viele Basis- und Stadtteilorganisationen die Methode der Selbstkonstruktion, die international vom Architekten John Turner vertreten wird, eine ganz eigene Philosophie von Gemeinschaft.

 
 

1957: die Besetzung von “La Victoria”

In der Nacht vom 30. Oktober 1957 nahmen etwa 1.200 Familien aus dem Elendsviertel am Ufer des Flusses Mapocho in Santiago ein Stück Land namens „La Chacra, La Feria“ in einem relativ zentralen Gebiet von Santiago in Besitz.

 

 

„Die Bewegung hatte gelernt, dass mindestens 500 Familien in einer Nacht gleichzeitig zusammenkommen mussten, um mit einer Besetzung Erfolg zu haben. Alle wurden mit einer chilenischen Flagge und einem Zelt oder einem anderen Gegenstand ausgestattet, dar ihnen erlaubte, Schutz zu suchen. Es war Oktober, das Wetter war von der Temperatur her gesehen recht gut. Und los ging es. Die Besetzung begann circa 1:00 Uhr morgens. Die Menschen kamen mit den unglaublichsten Transportmitteln, auf dem Fahrrad, auf der Straße an, per Anhalter, mit dem Bus, all das. Sie überwanden die Gitter und bewegten sich geräuschlos, bis sie sich gut installiert hatten“.

 

Die organisierte Aktion der Besetzer führen sofort zum Eingreifen der Polizei. Aber die Menschen sind gut organisiert und die Bevölkerung leistet Widerstand. Darüber hinaus intervenieren mehrere der Kommunistischen Partei nahe stehende Fachleute, um mit Kardinal José María Caro zu sprechen, der sich bereit erklärt, mit der Regierung zu vermitteln. Wenige Tage später lenkt die Regierung ein, die Besetzer können bleiben. Die Menschen feiern ihren Erfolg und geben der neuen Siedlung einen passenden Namen: La Victoria.

 

Der von La Victoria eingeschlagene Weg findet schnell Nachahmer. Andere Obdachlose und Wohnungsuchende lösen eine Welle weiterer Besetzungen aus. Die Botschaft halt nach: Das Recht auf Wohnen legitimiert sich nicht aus den Verfahren des Staatsapparat heraus, sondern aus einem organisierten kollektiven Handeln. Die direkte Aktion der „toma“ wird so zu einer festen Praxis. Im Zuge der urbanen Besetzungen entstehen in Santiago neue Stadtviertel, unter der aktiven Beteiligung von Abertausenden von Siedlern.

 

 

Die Regierungszeit von Eduardo Frei: Von der “Operación Sitio” zur “Operación Tiza”

1964 gewinnt der Christdemokrat Eduardo Frei Montalva die Präsidentschaftswahlen, getragen vom Wunsch nach Veränderungen und angetrieben von gesellschaftspolitischen Forderungen die unter dem Ausdruck „Revolution in Freiheit“ Ausdruck finden. Frei verspricht den Armen, sie besser in die Städte zu integrieren und die informellen Siedlungen zu beseitigen. 1965 wird das Ministerium für Wohnungswesen (Minvu) geschaffen und die „Operación sitio” gestartet.

 

 

 

„Die Christdemokraten (DC) begannen zu bauen, aber sehr bald blieben die Pläne hinter dem zurück, was wirklich benötigt wurde. Besonders deutlich wurde dies 1965 und 1966. Die Slums litten besonders unter den Folgen eines Erdbebens in Zentralchile. Die Wohnungsproblematik verschlimmert sich weiter, so dass die DC parallel zu ihren formelleren Wohnungsplänen ein weiteres Programm auf den Weg brachte, das den Namen „Operación sitio“ trug. Das Programm bestand darin bestimmte Orte zu urbanisieren, d.h. sie mit Trinkwasser, Elektrizität und wenn möglich mit Abwasser zu versorgen, wenn auch nicht vollständig, so doch zumindest in Ansätzen. Kleine Fertighäuser bauen, das war der Plan. Das geschah auch unter Berücksichtigung vieler technologischer Fortschritte, zum Beispiel einer weiter entwickelten Holzindustrie, die solche Fertighäuser erst möglich machte. Kurz gesagt, im Jahr 1965 hatte die DC über etwa 10.000 Häuser dieses Typs gefertigt. Der Aufbau an bestimmten Orten konnte beginnen. Die Ärmsten wurden aufgerufen, sich bei staatlichen Stellen und Ministerien registrieren zu lassen, um Teil dieses Programms zu werden. Die Registrierung dauerte fast eine Woche und bereits am ersten Tag wurden 10.000 Menschen und am zweiten Tag weitere 10.000 registriert. Kurz gesagt, am Ende der Woche waren etwa 56.000 Menschen registriert. Da das Programm 10.000 Häuser bot war die Nachfrage als fast sechsmal größer.“

 

Zwischen 1965 und 1970 wurden diese Häuser an etwa 70.000 Standorte ausgeliefert und insgesamt kam das Programm mehr als 380.000 Menschen zugute. Die Qualität der Urbanisierung war jedoch so unterschiedlich, so dass Siedler und Gegner dieser öffentlichen Politik begannen, sie „Operation Kreide“ zu nennen, da in vielen Fällen waren die Lieferungen einfach nicht ausreichend.

 

Die Kunst engagiert sich für die städtischen Armen

Ende der 1960er Jahre sind in Santiago mehr als eine Million Menschen „obdachlos“ -fast ein Drittel der städtischen Gesamtbevölkerung. Die Basisorganisationen gehen wieder in die Offensive und gewinnen auch die Sympathie der Mittelschichten. Intellektuelle und Künstler*innen werden auf die Bewegung aufmerksam. Sie machen die wichtigen Veränderungsprozesse in den chilenischen Städten zum Thema ihrer Arbeit.

Victor Jara la Toma

 

1966, im Rahmen einer weiteren wichtigen urbanen Besetzung, Herminda de la Victoria, entstehen verschiedene künstlerische Arbeiten, wie der experimentelle Film Herminda de la Victoria (1966) von Douglas Hübner und das musikalische Konzeptalbum La Población (1967) von Victor Jara.

Douglas Hübner

 

 
Zur gleichen Zeit erscheinen an den Stadtmauern immer mehr Slogans und Wandbilder, die das Entstehen einer neuen populären Kultur ankündigen, in der die Bewohner*innen ein wichtiger politischer Akteur sind.

 

Die Unidad Popular: würdevolles Wohnen und Stadtentwicklung „mit den Menschen”.

Die wachsende Siedlerbewegung und mehr als 150 Besetzungen in Santiago und anderen Städten beeinflussen auch das Regierungsprogramm von Salvador Allende, Kandidat der linken Koalition Unidad Popular. Allende macht den Wohnungsbau zu einem zentralen politischen Thema. Als er 1970 die Wahlen gewinnt, künfigt er das ambitionierteste Programm in der Geschichte des öffentlichen Wohnungsbaus an: den Bau von 79.250 Wohnungen im Jahr 1971 und die Urbanisierung von 120.505 Standorten. Dabei soll eng mit der Bevölkerung zusammengearbeitet werden. Der Architekt Miguel Lawner leitet damals viele dieser Initiativen:

 

 

„Wir hatten bereits im Wahlprogramm festgelegt, dass wir den Bevölkerungsteilen Vorrang einräumen würden, die bis dahin nie eine Chance für die Lösung ihrer Wohnprobleme hatten.“

 

„Wir setzten die bisherige Poltiik außer Kraft und führten einen neuen Faktor ein, den wir Wohnungsnotstand nannten. Darin wurden Prioritäten definiert, um Lösungen und Kriterien zu finden, wen wir mit unserem Programm bevorzugen würden. Auf diesen Weise setzten wir Vorschläge in die Realität um. Die städtische soziale Politik sollte nicht nur proklamiert sondern praktiziert werden. Weil wir dem städtischen Grund und Boden keinen spekulativen Wert beimaßen, erlaubten wir es uns auch, in guten Wohnlagenlagen den sozialen Wohnungsbau voranzutreiben. Denn im Allgemeinen, gestern wie heute, ist die Nachfrage nach Wohnraum immer dort angesiedelt, wo Menschen bereits leben und wo sie ihre Wurzelnhaben.“

 

„Im ersten Jahr gelang uns die Fertigstellung von 100.000 Wohnungen. Das nationale Statistikamt hat das genau dokumentiert. Wir wissen, dass es auch in ländlichen Gebieten viele Wohnungen gebaut wurden, im Zuge der chilenischen Agrarreform. Die tauchen aber gar nicht in den offiziellen Statistiken auf. Aber da lief trotzdem viel, vorrangig für Obdachlose.“

 

 

Die Villa „San Luis”: eine Utopie wird Wirklichkeit

An der Spitze der Stadtentwicklungsbehörde Cormu setzt sich Lawner für die Bekämpfung der sozialen Segregation in den Städten Chiles ein. Unter seiner Leitung arbeitet Cormu direkt mit lokalen Wohnungsbauausschüssen und wird zu einem Modell für horizontale Kooperation. Das Motto lautet: Stadtverbesserungen dürfen nicht auf Vorurteilen gegenüber Menschen fußen, sondern mit den Menschen gemacht werden.

 

1971 setzt die Unidad Popular eine deutliche Zeichen gegenüber der Wohnungslosenbewegung und startet das Projekt „Villa San Luis“, ein groß Bauvorhaben mitten in einer der wohlhabendsten Gegenden der Hauptstadt.

 

 

 
„Es hatte schon seinen Grund, warum wird die Villa de San Luis in Las Condes umsetzen wollten. Das Projekt war für die Wohnungssuchenden Menschen in Las Condes bestimmt. Das waren im Allgemeinen einfache Leute, Bauarbeiter, die in Las Condes wohnten und dort in der Nähe arbeiteten, in Las Condes, Vitacura und Lo Barnechea. Dazu kamen Hausangestellte, Gärtner, Choffeure usw. Die wollten alle in er Nähe ihrer Arbeitsplätze wohnen und kamen teils von weit her, Viertel wie La Pintana. Es gab also keien Grund nicht zu bauen, es sei man spekuliert über den Wert des Grundstücks, was normaler Weise der Fall ist, aber das haben wir nicht getan. Es war möglich, die Wohnungsnachfrage auf unsere Weise zu lösen, das gesamte Cormu-Programm in Zeiten der Unidad Popular ist geprägt davon. Wir bauten auch die Umgehungsstraße Américo Vespucio. Das kam direkt Menschen zugute, die wirklich Bedarf an Wohnraum hatten. Ein großartiges Projekt“.

 

 

Das Projekt „Villa San Luis“ wird 1972 umgesetzt. Der Urbanisierungsplan umfasst eine Wohnstruktur von 27 Gebäuden und 1.038 Wohnungen und wird zu einer der emblematischsten städtischen Intervention der Unidad Popular.

 

Die KPD und die Solidarität der UdSSR

Obwohl die Regierung Allende den Wohnungsbau mit viel Energie vorantreibt, erschweren Probleme bei der Materialversorgung die Arbeit. Die Engpässe sind eine Folge von Widerständen in Chile und einer internationalen Embargopolitik. Als ob dies nicht genug wäre, erschüttert im Juli 1971 ein schweres Erdbeben der Stärke 7,5 Zentralchile und zerstört allein in der Provinz Valparaiso Tausende Häuser. Hilfe kommt aus dem Ostblock. Die UdSSR spendet ein komplettes Werk für Fertighausplatten und entsendet Techniker zur Schulung des örtlichen Personals, erinnert sich der Fabrikarbeiter Servando Mora:

 

 

„Ja, sie kamen mit einem Schiff an. Und es wird sogar viel darüber geredet, dass eine weitere Fabrik in Concepción geplant war, doch die Schiffe, mussten zurückgeschickt werden, weil sie vom Militärputsch überrascht worden. Die zweite Ladung hat das Land nicht erreicht, die Fabrik in Concepción wurde nie errichtet. Es war grondioses ein tolles Projekt. Die Wahrheit ist, wann wird in Chile ein Arbeiter je wieder so würdig leben? 56 Quadratmeter, Wohnungen in dieser Größenordnung würde man heute in Chile niemals für einen Arbeiter oder einfache Menschen bauen.“

 

 
Die KPD (die Übersetzung des russichen Akronyms КПД das so viel heißt wie „Gebäude mit großen Tafeln) wurde in Lateinamerika während der Regierungszeit von Nikita Chruschtschow gefördert. Es gab zwei unterschiedliche Versionen: die kubanische Variante „Großes Sowjetpanel“ (1965) und die „KPD“-Tafeln (1972), die chilenische Version. Servando Mora erzählt, wie seine Arbeit bei er KPD begann:

 

 

„Nun, und ich hab nicht lange gezögert. Ich war Schweißer, ich hatte einiges an Vorwissen in dem Bereich. Und ich dachte, dass ich, indem ich in die KPD ging, nicht nur neben der politischen Arbeit Zugang zu der Technologie haben würde, die sie aus Russland mitbrachten, und davon lernen würde, was dann geschah. Deshalb gingen wir zur Arbeit in der KPD, ich ging zur Arbeit in der KPD, was eine sehr bereichernde Etappe war, und abgesehen davon war der Stolz, an einem Projekt teilzunehmen, das das symbolische Projekt von Präsident Allende war, an Wohnraum zu arbeiten, und dass es für uns zu dieser Zeit über die professionelle Arbeit hinausging.

 

Das Unctad-III-Gebäude: Die Welt soll uns sehen.

1971 beschließen die Vereinten Nationen (UNO) die Dritte Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad III) nicht in Mexiko sondern in Chile stattfinden zu lassen. Die Regierung nimmt den Vorschlag an und beginnt mit dem Bau eines modernen Gebäudes, um die mehr als 3.000 Delegierten aus der ganzen Welt, die an der Konferenz teilnehmen würden, zu empfangen. Miguel Lawner erinnert sich

 

 

„Es muss Ende März 1971 gewesen sein, während einer öffentlichen Kundgebung auf dem Platz der Verfassung. Zum Schluss sprach [Salvador] Allende. Ich war an diesem Tag einfach ein weiterer Zuschauer und Zeuge, als der Präsident seine Ansprache mit den Worten schloss: „Ich möchte ihnen noch mitteilen, dass Chile die Ehre hat, Gastgeber der nächsten Weltkonferenz der Uunctad [Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung] zu sein.” Klar, niemand hatte den leisesten Schimmer, was das bedeutet. Der Präsident fügte hinzu: „Ist eine doppelte Herausforderung für uns. Zuerst einmal müssen wir diese Konferenz organisieren, an der 3000 Delegierte aus der ganzen Welt teilnehmen. Und zweitens müssen wir dafür ein Gebäude bauen, denn es gibt bisher kein Gebäude in Chile, in dem diese Konferenz stattfinden kann.“

 

Der Präsident beschließt, dass der Bau des Gebäudes in die Zuständigkeit der Cormu fällt, und ernennt Miguel Lawner als Verantwortlichen. Darüber entscheidet Allende, dass das Gebäude an der Alameda (der Hauptstraße Santiagos) errichtet werden soll, damit „es jeder und jede sehen kann“. So beginnt eine Wettlauf gegen die Zeit, denn das Team hat weniger als en Jahr für die Fertigstellung. Der Bau zieht die Aufmerksamkeit der Linken auf sich, die in dem Gebäude die Verwirklichung einer sozialistischen Zukunft sehen. Die Rechte dagegen hofft, dass das Werk scheitern würde. Die argentinische Soziologin Mirta Palomino wohnt während der Bauphase direkt gegenüber:

 

 

 

„Es gab ein leuchtendes Schild, auf dem stand: ‚Nur noch 48 Tage, 47 Tage, 46 Tage‘ . Es war sehr aufregend, weil es für die damalige Zeit ein gigantisches Gebäude war“.

 

Mit der Hilfe Tausender Freiwilliger wird in den letzten vier Monaten 24 Stunden am Tag gearbeitet, in 8-Stunden-Schichten. Mehrere chilenische und internationale Künstler*innen stellen Werke für das Projekt zur Verfügung, und es entsteht ein beeindruckende Symbiose von Kunst und Architektur, sagt Miguel Lawner:

 

 

„So etwas gab es nie zuvor in Chile und ich glaube eine solche Arbeit wieder auch nie wieder gemacht werden, mit diesem Grad an Schönheit und Engagement, dieser bewundernswerten Beziehung zwischen Kunst und Architektur. Die Künstler haben nicht einfach ein paar Leinwände an die Wände des Gebäudes gehängt, sondern uns geholfen, die Türen, die Laternen und die Glasdecken zu kreieren. Einige Bürgersteige, wie der Eingang zur Cafeteria, wurden von keinem Geringeren als Nemesio Antúnez entworfen. Auch Handwerker beteiligten sich und die Stickerinnen der Isla Negra stellten einen wunderbaren Wandteppich her, der großformatig die Geographie Chiles zeigte“.

 

Am 3. April 1972 weiht Präsident Salvador Allende das UNCTAD III-Gebäude offiziell ein. In seiner Antrittsrede sagte er:

 

„Die Leidenschaft und der Eifer, mit denen die Bevölkerung dieses Gebäude gebaut hat, sind ein Symbol der Leidenschaft und des Eifers, mit denen Chile zum Aufbau einer neuen Menschheit beitragen will, die Not, Armut und Angst verschwinden lässt…“

 

 

 

 

„Dass Gebäude fand in der Bevölkerung schnell unfassbar viel Anklang. Schon während der Konferenz war es erstaunlich zu sehen, wie sich eine Menschenmenge zu den Vorträgen drängte. Die Leute standen draußen, auf der Alameda, einer breiten Straße im Zentrum, einfach nur um zuzuschauen. Denn erstmals konnte man in Chile Afrikaner und Asiaten sehen, in ihrer spektakulären Kleidung, die die Leute ganz verrückt machte. Sie versuchten die Besucher im Vorübergehen anzufassen, baten um Autogramme. Das Gebäude war einfach als offener Ort geplant, für alle.

 

Zu den damaligen Besuchern gehört auch der argentinische Soziologe Héctor Palomino:

 

 

„Der Bau funktionierte hauptsächlich als Studentenkantine. Die Kantine war für uns ein. Da war immer was los und die meisten von uns gingen dort täglich zum Essen. Wir waren keine Studenten, aber der Ort stand allen offen. Zugleich gab im Unctad-Bau auch eine Menge weiterer Aktivitäten. Ein wichtiger Soziologiekongress fand dort nach der Eröffnung des Gebäudes statt. Es war fantastisch, alle Soziologen des Kontinents direkt vor unserer Haustür, es war einfach wunderbar.“

 

Neben offziellen Veranstaltungen und Konferenzen entwickelt sich das Unctad III-Gebäude, das später in Gabriela Mistral Kultuzentrum (GAM) umgetauft wird, auch zu einem Treffpunkt für populäre Künstler*innen, sagt Miguel Lawner.

 

 

„Und ziemlich schnell begannen die jungen Leute hier Gitarre zu spielen, ohne dass es jemand geplant hätte. Irgendwer stand auf, zeigte eine Pantomime-Nummer, sang etwas. Jeder konnte hier auftreten, es gab kein Programm, alles geschah einfach ganz natürlich. Folglich hatte das Gebäude ein pralles Leben. Es war ja auch als offener Raum für die Gemeinschaft konzipiert worden und genauso funktionierte es auch – bis zum Militärputsch.“

 

1973. Rückschritte: die zivil-militärische Diktatur und der Wohnungsbau als Ware.

Mit dem Militärputsch von 1973 und der Machtübernahme von Augusto Pinochet ist Wohnen nicht länger ein unveräußerliches Recht der Bevölkerung, sondern zu „einem Recht, das mit Mühe und Ersparnissen erworben wird“. Die Diktatur verbietet alle Stadtteilorganisationen und erklärt den Zugang zu Wohnraum zu einer individuelle Angelegenheit.

 

Mit der Liberalisierung des Imobilienmarktes nimmt die soziale Segregation stark zu. Der Wert des zentral gelegener städtischer Grundstücke steigt erheblich, Bodenspekulationen sind an der Tagesordnung. Davon betroffen ist insbesondere die informelle Bevölkerung in diesem Gebiet, die gewaltsam vom Stadtzentrum an die Peripherie gedrängt wird. In den dortigen Komunen konzentriert sich nun die Armut auf Gemeinden und es fehlt an Jobs, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, bestätigt der Stadtforscher Mario Garcés:

 

 

„Die Errungenschaften der Bevölkerung waren so groß, dass sie sich nach dem Putsch nicht so leicht umzukehren ließen. Man konnte die Nachbarschaften und Stadtteile, die seit den 1960er Jahren entstanden waren, nicht einfach eliminieren. Aber was das Militär schon tun konnte und tat, war, sie aus den besseren Wohngegenden zu vertreiben, dort wo sich der Reichtum und die hohen Einkommen des Landes konzentrierten. Die großen gewaltsamen Umsiedlungen in den 1980er Jahren betreffen vor allem die Armen, die es geschafft hatten, sich in Las Condes und anderen gutbetuchten Vierteln anzusiedeln. Auf anderer Ebene schuf die Diktatur Nachbarschaftsräte ein, ein System aus Informanten für die administrative und polizeiliche Kontrolle.“

 

Die Diktatur beginnt schnell, die Symbole zu zerstören, die die Regierung der Unidad Popular in der Stadt errichtet hatte. Das Unctad-III-Gebäude wird besetzt, geschlossen und viele seiner Kunstwerke zerstört und geplündert. Die Villa San Luis wird unter militärische Kontrolle gestellt, ständig werden Razzien durchgeführt und Oppostionelle festgenommen. Ganze Familien werden gewaltsam gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und auf auf Armeelastwagen zum Stadtrand gebracht, wo sie sich selbst überlassen bleiben. Ihre Wohnungen fallen Militärfamilien zu. In den 1990er Jahren legalisiert die erste zivile Regierung der Concertación diese gewaltsame Aneignung durch das Militär. Villa San Luis wird an eine Immobiliengesellschaft verkauft, die seit dem nach und nach ihre Gebäude abreißt. Was bleibt ist nur die Erinnerung…

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Epilog: der Kampf für ein menschenwürdiges Wohnen geht weiter.

Während der 17 Jahre währenden militärisch-zivilen Diktatur (1973-1990) wird die Erinnerung an die Unidad Popular geächtet, ihre Symbole zerstört oder diffamiert. Nach dem Ende des autoritären Regimes prägt das neoliberale Wirtschaftsmodell einen auf Individualismus und Konsum basierenden Lebensstil, sehr zu Lasten von Solidarität und einem kollektiven Gemeinsinn, der die Zeit der Unidad Popular kennzeichnete. Und doch bewahren viele Stadtviertel diese Erinnerung und an manchen Orten hat eine neue Generation von Bewohner*innen den Kampf für ein menschenwürdiges Wohnen für alle aufgenommen.

 

 

Die momentan grasierende COVID-19-Pandemie verstärkt die ererbten sozialen Ungleichheiten nun täglich weiter. Die sozialen Aufstände vom Oktober 2019 hatten den Blick auf das „Recht auf Stadt“ bereits wieder geschärft. Doch die Quarantäne erstickte die dynamische Protestbewegung auf der Straße. Beobachten lässt sich in diesen schwierigen Zeiten dagegen wieder ein solidarischeres Miteinander. In vielen ärmeren Vierteln werden Ollas Comunes organisiert. Die Volksküchen versorgen Tausende Menschen, deren Nahrungsbedarf nicht gedeckt ist. Vielleicht ist diese Rückkehr der Ollas Comunes ein Vorbote eines neuen Zyklus sozialer Kämpfe für ein gerechteres Miteinander in Chiles Städten.