Agrarreform – Das Land denen, die es bestellen

Chile: ein armes feudales Land

Chile 1916. Schon seit Tagen notiert der als Tagelöhner verkleidete Politiker und Publizist Tancredo Pinochet Le-Brun die Zustände des Landlebens auf der Hacienda Camarica in sein Notizbuch. Aus nächster Nähe erlebt er einen Arbeitsalbtraum:

 

„Es wird von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet. Zum Frühstück gibt es ein Stück Brot, ohne Kaffee oder Tee, ohne heißes Wasser; ein Teller Bohnen zum Mittag, ohne Brot; und noch ein Stück Brot am Tagesende. Nach all dem geht das menschliche Tier […] nicht in ein Schlafzimmer, um sich auszukleiden: es wirft sich unter freiem Himmel auf einen Strohhaufen, und am nächsten Tag steht es wieder auf, ohne sich zu waschen, streckt sich und beginnt von neuem zu arbeiten, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang…

 

Die Schilderungen des Alltags auf dem Gutssitz des damals amtierenden Präsidenten Juan Luis Sanfuentes sorgen für einen Sturm der Empörung – für die mehr als zwei Millionen betroffenen Menschen, die ohne ausreichende Grundversorgung und ohne Bildungsmöglichkeiten in quasi-feudalen Verhältnissen auf dem Land leben, ändert sich in den nächsten drei Jahrzehnten jedoch kaum etwas.

 

Von der 1954 in Guatemala gewaltsam vereitelten Agrarreform bekommt die chilenischen Landbevölkerung nichts mit. Dafür sprechen sich die Erfolge der Kubanische Revolution (1953-1959) herum, die für eine noch radikale Umverteilung der Äcker steht…

Inquilinos en la hacienda de Su Excelencia

 

Frankreich: Verarmtes Zentrum, umkämpfte Peripherie

Europa kämpft zu Beginn der 1950er Jahre derweil noch immer mit den Folgen des 2. Weltkriegs. Auch hier sind große Teile der Bevölkerung verarmt, in Paris grassieren, unbeachtet von der urbanen Bourgeoisie, Hunger und Obdachlosigkeit. Gerade hat der 27-jährige Henri Antoine Grouès, der später in aller Welt als Abbé Pierre bekannt werden sollte, die Wohltätigkeitsorganisation Emmaus gegründet. Er teilt seinen relativen Wohlstand mit den Ärmsten und versucht das Land auf die soziale Misere aufmerksam zu machen:

 

„Eine Frau ist heute früh auf dem Bürgersteig des Boulevards von Sebastopol erfroren, in der Hand hielt sich noch immer den Ausweisungsbescheid aus ihrer Wohnung,”

 

empört sich Abbé Pierre während des harten Winters 1954 im Sender Radio Luxembourg.

“Wir können nicht akzeptieren, dass Menschen wie sie weiterhin sterben. Möge so viel Schmerz die wunderbare Seele Frankreichs erwecken!”

Die Wut des überkonfessionellen Kapuziner-Aktivisten richtet sich auch gegen die herrschenden Verhältnisse in jenem Teil der Erde, der zu dieser Zeit als „Dritte Welt“ bezeichnet wird. Gemeinsam mit dem Soziologen Yves Goussault gründet er Iram (Institut de recherche et d’application de méthodes de développement), ein Forschungsinstitut, um praktische Aktionen gegen das globale Elend anzuleiten.

Hommage Yves Goussault in Revue Tiers Monde_2003_4

 

1956 nehmen Goussault und einige Mitstreiter im gerade unabhängig gewordenen Marokko die Arbeit auf. Während die französischen Regierungen ihre Kolonien nur ungern aufgeben und in Algerien sogar Krieg führen, schauen junge Absolventen der Agrarschulen wie Dominique Genty mit anderen Augen nach Afrika: Sie wollen den jungen Staaten beim Weg in die Unabhängigkeit helfen, sie als Fachkräfte von Iram bei der ländlichen Entwicklung unterstützen.

 

„Die meisten Leute bei Iram waren politisch vom Algerienkrieg geprägt, der uns in mehrfacher Hinsicht Sorgen bereitete. Wir haben die Epoche der Unabhängigkeitskämpfe gelebt, unsere Generation war für die Unabhängigkeit. Und so schien es ganz natürlich zu sagen: Das Ziel unserer Generation ist es, beim Aufbau der Unabhängigkeit zu helfen. Wir waren technisch interessiert, aber ich denke, dass wir auch politisch alle sensibel für die Entwicklungsprobleme waren, die die Unabhängigkeit mit sich brachte: die Ausbildung von Nationalkadern, andere Beziehungen zu den Bauern usw.“

 

USA: Eine Allianz für den Fortschritt für Ruhe im Hinterhof

 

Politisches Aufbegehren in Afrika, bärtige Guerilleros in der Karibik – die USA sehen sich in ihrer Rolle als Weltpolizist unter Zugzwang. 1961, im gleichen Jahr als Franz Fanon in seinem bekannten Werk Die Verdammten dieser Erde offen zum Kampf gegen den Kolonialismus und Imperialismus aufruft, wendet sich US-Präsident John F- Kennedy in einer Fernsehansprache an die Bewohner*innen Lateinamerikas:

 

“In ganz Lateinamerika, einem Kontinent, der reich an Ressourcen und an den spirituellen und kulturellen Errungenschaften seiner Menschen ist, leiden Millionen von Männern und Frauen unter den täglich Erniedrigungen von Armut und Hunger. Es fehlt ihnen an einer angemessenen Unterkunft oder am Schutz vor Krankheiten. Ihre Kinder werden der Bildung oder der Arbeit beraubt, die das Tor zu einem besseren Leben sind.

 

Deshalb rufe ich alle Menschen der Hemisphäre auf, sich einer neuen Allianz für den Fortschritt – Alianza para [el] Progreso – anzuschließen, einer gewaltigen kooperativen Anstrengung, die in Größe und Zweckmäßigkeit beispiellos ist, um die Grundbedürfnisse der amerikanischen Bevölkerungen nach Haus, Arbeit und Land, Gesundheit und Schulen – Techo, Trabajo y Tierra, Salud y Escuela – zu befriedigen.”


Tierra – Land ist ein Bedürfnis, dem in Lateinamerika vor allem der Großgrundbesitz im Wege steht. In Chile konzentrieren noch Mitte der 1950er Jahre 10.000 Ländereien 80 Prozent aller Agrarflächen, während die Hälfte der Bauern überhaupt kein Land besitzt.

 

Und diese soziale Ungleichheit hat Folgen: die seit den 1920er Jahren aktiven Landarbeitergwerkschaften (Ligas Campesinas) bekommen Zulauf und linke Parteien, wie die 1933 gegründete Sozialistische Partei (Ps), finden auch auf dem Land Unterstützung. So muss die seit 1958 regierende liberal-konservative Koalition von Präsident Jorge Alessandri bei den Parlamentswahlen 1961 große Verluste hinnehmen.

 

Die Regierung kann nicht länger die soziale Frage auf dem Land ignorieren – noch dazu wo die USA nun unverhohlen droht, allen Ländern die Wirtschaftshilfe zu streichen, die keine strukturellen Veränderungen einleiten.

Barraclough und die Blumentopfreform

1962 erlässt Alessandri schließlich ein Gesetz dass in Chile heute als „Blumentopfreform“ bekannt ist. Statt weitreichender Veränderungen umfasst es einige Absichtserklärungen, macht theoretisch zwar Enteignungen möglich, führt unterm Strich jedoch nur zum Kauf und der Umverteilung von 50.000 Hektar Land – damals gerade mal ein Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.

 

Vor allem die Großgrundbesitzer – oftmals direkt vertreten im Kongress – setzen alles daran, die Landbevölkerung über ihre neuen Rechte im Unklaren zu lassen. Flugblätter werden zerstört, Gewerkschaftern der Zugang auf ihr Güter verwehrt. So schmuggeln Kinder und Jugendlich wie Francisca Rodríguez die Nachrichten zu den Arbeiter*innen:

„Wir waren diejenigen, die rein konnten. […] Wir waren es gewohnt, Propaganda zu schmuggeln. Und die Propaganda war immer mit Zeichnungen versehen, weil die Bauern nicht lesen konnten. Die Felder der Landgüter lagen hinter verschlossenen Toren. Nur wir konnten rein und über mitternächtliche Treffen informieren. Es war eine absolut geheime Arbeit. […] Zuerst habe ich die Botengänge unbewusst gemacht, wie so viele Dinge auf dem Land, die einem einfach befohlen wurden. In meinem Fall schickte mich mein Großvater. Er war einer der ersten Anarchosyndikalisten.“

 

Trotz aller Unzulänglichkeiten legt das neue Gesetz den Grundstein für das Nationale Institut für landwirtschaftliche Entwicklung (Indap), den Rat für landwirtschaftliche Entwicklung (Consfa) und das staatliche Unternehmen Cora – später, unter anderen politischen Vorzeichen, allesamt wichtige Instrumente einer progressiven Agrarpolitik. Gemeinsam mit dem interamerikanischen Komitee für Agrarentwicklung (Cida) verändern diese Organisationen allmählich den Blick der Stadtbewohner*innen auf das Landleben, erinnert sich der damalige Student Luis Salinas:

„Die Frage der Agrarreform stellte sich aus akademischer Sicht so: wir können keine vernünftige Landwirtschaft betreiben, wenn der Staat nur den Interessen einiger Weniger dient und die Produktion auf verwaisten Flächen mit geringen Erträgen stattfindet. Dazu kamen die technischen Berichte, im Jahre 1965 dann auch eine Studie von Cida, die offen sagte, die Landverteilung in Chile sei schlicht ein Skandal.“

 

Treibende Kraft hinter vielen dieser Berichte ist der Harvard-Absolvent Solon Barraclough, der sich zuvor als kritischer Ökonom in den Südstaaten der USA einen Namen gemacht hatte, wo er sich auch für Landlose und Tagelöhner einsetzte.

Die Frankreich-Brasilien-Connection

Agrarreform Brasilien

Auch Iram bereitete 1963 erste Einsätze in Lateinamerika vor. In Paris wirbt der junge chilenische Agrarwirt Jacques Chonchol, der gerade an der Sorbonne promoviert, für einen Einsatz in Chile. Doch die Leitung von Iram will lieber nach Brasilien gehen, wo die Regierung von João „Jango“ Goulart im März 1964 eine große Enteignung und Umverteilung von Ackerland ankündigt – und deshalb nur drei Wochen später von putschenden Militärs ins Exil getrieben wird.

 

Also doch Chile. Ein Berater des französischen Außenministeriums empfiehlt in Kontakt mit einem gewissen „Chonchol“ zu treten, der zurück in Santiago gerade Vizedirektor des Indap geworden ist und nur zur gern internationale Helfer ins Land holen will…

 

Die Agrarreform der Christdemokraten

PDF Revista Campo lindo

 

Seit 1964 regiert in Chile Eduardo Frei Montalva von der Christdemokratischen Partei (Dc). Fortschrittliche Geistliche der Katholischen Kirche organisieren für die Landbevölkerung schon seit längerem Bildungsangebote und unterstützen sie bei arbeitsrechtlichen Forderungen. Mit einem zweiten Gesetz erweitert die Regierung Frei 1967 die Agrarreform entscheidend. Die Enteignung und Umverteilung von Land sollen erleichtert werden und die Grundversorgung der Bevölkerung weiter verbessert.

 

Im Weiterbildungsinstitut Incira (das dem Indap angehört) treffen bald auch die ersten Agrarwirte aus Frankreich ein. Olivier Delahaye von Iram erinnert sich gut an den ersten Kulturschock:

“In Chile hatten wir einen ganz anderen Kontext, als in Algerien oder im Niger. Dort gab es eine, wie es schien, fest verwurzelte Latifundienstruktur. Mit den chilenischen Bauern zu arbeiten war etwas ganz anderes. Die chilenischen Bauern hatten die Idee eines Patrons, eines Herren verinnerlicht. Zu Beginn der Agrarreform redeten sie oft auch die Leiter der Agrarsiedlungen, die von der Behörde geschickt wurden, mit „Patron“ oder „Chef“ an. Wo sollte man da machen? Es war ein bisschen kompliziert und wir dachten damals, dass man wohl ganz unten anfangen müsse.”

 

Ganz unten, das heißt die Menschen darin zu stärken, selbst zu entscheiden. Lesen und Schreiben sind dabei wichtige Voraussetzungen, die jedoch die wenigsten Landarbeiter*innen beherrschen. Dieser Aufgabe widmet sich der brasilianische Pädagoge Paulo Freire, der gemeinsam mit vielen weiteren Exilenten bei Incira tätig wird, darunter Minister und Berater der gestürzten Regierung Goularts. Gemeinsam bringen sie viel technische Expertise für Agrarfragen mit. Und Freire sorgt neben speziellen Alpahebtisierungskursen auch dafür, dass die technischen Weiterbildungen für alle verständlich sind, erinnert sich Francisca Rodríguez:

„Die gesamte Struktur des staatlichen Ausbildungsinstituts Incira wurde von Paulo Freire konzipiert. Er schuf ein ganzes System aus Schaubildern. Ich denke bis heute daran, die waren sehr schön gemacht und vor allem für die Alphabetisierung nützlich. Die Grafiken waren ebenso entscheidend wie die Alphabetisierungslehrer. Es gab richtige Alphabetisierungsbrigaden. Nicht nur Paulo Freire, sondern alle, sahen Bildung immer aus Sicht der ländlichen Gemeinden und ihrer Organisation.“

 

Für die regierende Dc ist es wichtig, bei all diesen Veränderungen tonangebend zu bleiben, denn die Landbevölkerung bildet für sie eine wachsende Wählerbasis. Seit 1949 können in Chile auch Frauen wählen. Ihre politische Organisation ist jedoch gering, die Rollenverteilung eindeutig: Gerade mal sechs Prozent der ländlichen Gewerkschaftsmitglieder sind zu dieser Zeit Frauen. In sogenannten „Mütterzentren“ (Centros de Madres) soll deshalb auch die weibliche Landbevölkerung einen Raum für Begegnungen und Bildung erhalten. Alicia Muñoz, die seit klein auf als Hilfskraft für eine Gutsherrin arbeitete, warnt davor diese Orte wegen ihres wenig emanzipativen Titels vorschnell abzulehnen:

„Der Besuch des Mütterzentrums war für mich von grundlegender Bedeutung. Denn hier traf ich Menschen aus Kleinstädten, die den Prozess der Agrarreform unterstützten, die uns Lesen und Schreiben beibrachten. Sie waren unsere Lehrer.“

 

Zugleich knüpfen in diesen Kursen auch die Frauen vom Land einen engeren Kontakt:

„Zum ersten Mal konnte wir aus den Häusern raus und uns an einem öffentlichen Ort treffen. Das Mütterzentrum war klein aber wir konnten hier über verschiedene Dinge sprechen. Denn sonst lebten wir alle in weit entfernten Häusern. Um uns zu besuchen, und sei es nur um ein Huhn zu verschenken, mussten wir viele Kilometer laufen. Manchmal ging für so einen Besuch der ganze Tag drauf oder du musstest von vornherein eine Übernachtung einplanen.“

 

Was die Enteignungen angeht kommt die Agrarreform jedoch nicht so schnell voran wie geplant. Auch wenn bis zum Ende von Freis Regierungszeit über drei Millionen Hektar Land sozialisiert werden, macht das insgesamt nur 13 Prozent aller Anbauflächen aus. Die Christdemokraten versuchen sich in einem schwierigen Spagat: sie wollen die Forderungen der Bauern nicht der politischen Linken überlassen und es sich zugleich nicht mit der ländlichen Oligarchie verscherzen. Als eine „Revolution in Freiheit“ verkauft Frei diese Idee – doch bei den Großgrundbesitzern kann er damit wenig punkten, schreibt der engagierte Ökonom Solon Barraclough 1968:

 

„Wissen Sie, was viele der traditionellen Grundbesitzer in Chile, die in letzter Zeit durch eine äußerst bescheidene Agrarreform etwas Land verloren haben, am meisten verärgert? Wissen sie, warum sie bereit wären, fast alles zu tun, um das wieder rückgängig zu machen? Es ist nicht so sehr der Verlust von Reichtum oder gar Land, sondern, dass die Campesinos nicht mehr so bescheiden und ehrerbietig sind.“

 

Auch junge Christdemokraten wie der Agrarwirt Luis Salinas verlieren Ende der 1960er Jahre so langsam die Geduld mit der Dc. Es kommt zu einer Reihe von Parteiaustritten und 1969 gründen die Dissidenten – unter ihnen auch Jacques Chonchol – die Bewegung der Unitaren Volksaktion (kurz: Mapu). Für Salinas und die anderen ist klar: die Agrarreform muss mit anderen Mitteln fortgesetzt werden:

„Da der Prozess nicht in Gang kam, weil die Agrarunternehmer sich in den Tarifverhandlungen nicht bewegten, drängten die Bauern auf andere Mittel. Sie begannen Ländereien zu besetzten. Die Presse kam und berichtete ausführlich. Studenten kamen, um sie zu unterstützen. Auch andere Arbeiterorganisationen gingen hin, und die Mapu stand auch dahinter. Alle besuchten die Besetzungen und zeigten ihre Solidarität.“

 

Der christdemokratische Interessenausgleich ist gescheitert. Zwischen 1968 und 1970 nimmt die Zahl der Landarbeiterstreiks um ein zehnfaches zu, auf ganze 1.580 Arbeitsniederlegungen. Die Besetzung von Äckern vervierfacht sich im selben Zeitraum auf fast 2.000. Unter den angeeigneten Flächen befinden sich auch Ländereien im Süden des Landes, die den Mapuche-Indigenas seit dem 19. Jahrhundert von Siedlern europäischer Abstammung gewaltsam geraubt worden. Nun stehen einige Mapuche Seite an Seite mit Aktivist*innen der Bewegung der revolutionären Linken (MIR) und machen Ansprüche geltend…

 

Ein neuer Aufbruch auf dem Land

QUIMANTU Nosotros los chilenos. La lucha por la tierra

1970 ist in Chile Wahljahr, an dass die Schriftenreihe Nosotros los Chilenos im Band „Der Kampf ums Land“ (La Lucha por la tierra) rückblickend so erinnert:

 

„Die ersten Monate des Jahres 1970 vergingen und das Datum der Präsidentschaftswahlen, die die Zukunft Chiles bestimmen sollten, rückte näher. Die Großgrundbesitzer wurden immer wagemutiger und hofften auf eine erneute Wahl des inzwischen senilen Jorge Alessandri. Es wurde bereits offen über die auf den Haciendas gelagerten Waffenarsenale gesprochen, ‚um sich vor Enteignungen zu schützen‘. Doch Angesichts der Mobilmachung der Patrone vervielfachte sich die Besetzungen von Besitztümern, vor allem in den Provinzen Cautín und Valdívia.“

Der Kandidat der Dc, Radomir Tomic versucht eine Mehrheit für die Fortsetzung der Regierungsarbeit zu finden, verspricht zudem die Agrarreform zu intensivieren – vergeblich. Am Ende entscheidet das linke Bündnis Unidad Popular (UP) um den Sozialisten Salvador Allende die Abstimmung für sich.

Im Maßnahmenkatalog der UP heißt es unter Punkt 24:

 

EINE ECHTE AGRARREFORM

Wir werden die Agrarreform vertiefen, die auch den Mittel- und Kleinbauern, Kleinunternehmern, Zwischenhändlern, Angestellten und Außenstehenden zugute kommen wird. Wir werden die Agrarkredite ausweiten. Wir werden einen Markt für alle landwirtschaftlichen Produkte sicherstellen.

 

40 Medidas PDF

 

Doch die Vertiefung der Agrarreform entpuppt sich schwierig. Tagelöhner haben oft andere Visionen vom Landleben als Kleinbauern. Und die Parteien der Regierungskoalition verkomplizierten diese Debatten auf ihre Weise, erinnert sich Olivier Delahaye von Iram:

„Die Unidad Popular war ja ein Bündnis aus sieben Parteien. Und es gab etwas ganz Fatales, nämlich Quotenreglungen. Mit anderen Worten, überall wurden Verantwortliche strikt nach dem bei den Wahlen erzielten Stimmenproporz registriert, gewählt und ernannt – auf allen Ebenen, bis hin zur lokalen. Das war wirklich katastrophal.“

 

Alicia Muñoz dagegen meint, dass die Agrareform mit dem Regierungsantritt der UP eine neue Qualität entwickelt, besonders für die Frauen – und trotz aller Parteiquerelen:

„In der Zeit der Unidad Popular hab ich gelernt was Unterstützung von Außen heißt, vor allem von den Frauen in den Agrarkommissionen der Parteien. Die Agrarkommission der Sozialistischen Partei war für mich sehr wichtig. Deren Agrarwirtinnen, die aufs Land kamen, beteiligten sich auch an Bildungsmaßnahmen. Aber sie wollten die Bäuerinnen natürlich ebenfalls für ihre Parteien gewinnen und ich lernte, was eine politische Partei eigentlich ist. Ich denke, wenn zuerst die Kommunistische Partei gekommen wäre, wäre ich Kommunistin geworden, denn wir waren alle ziemlich naiv. Was uns an den Parteien gefiel war vor allem ihre Haltung, ihre Solidarität.“

 

Auch Agrarwirt Luis Salinas ist in dieser Zeit viel in den ländlichen Siedlungen unterwegs und versucht zu vermitteln. Gerade die hitzigen Debatten darüber, ob nach den Enteignungen eine individuelle Aufteilung des Landes oder der Aufbau von Genossenschaftsmodelle erfolgen soll, hätte anfangs unnötig Kraft gekostet:

„Im Grunde war das eine recht theoretische Frage. Denn laut Gesetz gab es ohnehin eine dreijährige Übergangszeit zwischen der Enteignung und der Vergabe von Landtiteln. In dieser Zeit sollten die Bauer beginnen selbst das Land zu verwalten. […] Ich glaube, dass alle Techniker der Meinung waren, der beste Weg sei es, dass Land in Form von Genossenschaften zu organisieren. Für die Produktion hätte so ein großflächigerer Maßstab Vorteile gebracht. Aber viele Campesinos waren dagegen, die dachten eher individuell und waren es gewohnt, ein kleines Stück Land zu beackern…“

 

Um diese endlose Eigentumsdebatte zu beenden, lenkt auch das Agrarministerium – inzwischen geleitet von Jacques Chonchol – den Blick immer wieder auf Weiterbildung und Selbstverwaltung. Kein einfaches Unterfangen, erinnert sich Olivier Delahaye:

„Eine großartige Idee kam von einem Chilenen, Gonzalo Pugas, der zu mir sagte: ‚Schau, nimm die großen Packpapierbögen hier und die Filzstifte. Die Bauern sollen selbst berechnen, wie ihre wirtschaftliche Bilanz im letzten Jahr ausgefallen ist und einen Wirtschaftsplan für das kommende Jahr machen. Sie sollen alle Kosten des Anbaus mit ihren eigenen Daten kalkulieren.‘ Das war außergewöhnlich und zweifellos eine große Entdeckung – für die Bauern ebenso wie für uns. Ein Bauer, mit einem Filzstift in der Hand, fühlte sich gestärkt. Und im Gespräch wussten die Genossen plötzlich, wie sie ihre Projekte ausarbeiten mussten. Das war ein großer Erfolg, Später entstand aus dieser Erfahrung auch ein Handbuch, das Blaue Buch, wenn ich mich recht erinnere.“

Beschleunigte Enteignungen, mangelnde Maschinen, neuer Streit

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Ein halbes Jahr nach dem Amtsantritt Allendes hat die Regierung bereits 750.000 Hektar Land für die Agrarreform enteignet. Die Übergabe der Flächen läuft nicht immer ohne Konflikte ab. Mal zerstören die ehemaligen Eigentümer mutwillig Bewässerungsanlagen oder Produktionsmittel, mal sind die früheren Herrenhäuser Ziel von Angriffen, erinnert sich Francisca Rodríguez:

„Es gab viel Hass und Wut. Manchmal rächten sich die Bauern, indem sie das Haus der früheren Eigentümer niederbrannten. Dabei hätte das Haus des Patrons auch ein Gemeindezentrum oder eine Schule werden können. Klar, aber ihre Reaktion nach all den Jahren der Unterwerfung war leidenschaftlich und trieb die Menschen zu solchen Aktionen.“

 

Oftmals können die Latifundisten einen Teil ihres Landes behalten, wobei sie dann natürlich die fruchtbarsten Flächen wählen und dort alle mobilen Gerätschaften und Maschinen zusammentragen, um sie vor der Verstaatlichung zu schützen. Auch deshalb kann die Agrarreform ihr Ziel einer raschen Produktionssteigerung nicht erfüllen.

 

Einfach neue Traktoren im Ausland zu kaufen, entpuppt sich als ein doppeltes Problem. Der chilenische Peso verliert 1971 zunehmend an Wert. Außerdem verhindert die US-Regierung von Richard M. Nixon gezielt den Export landwirtschaftlicher Maschinen nach Chile. Der Ausweg heißt Universal-650: ein orangefarbener Traktor made in Rumania, von dem die chilenische Regierung 10.000 Stück bestellt. Doch der Einsatz des unbekannten Gefährts ist nicht einfach, schildert der Landarbeiter Lucho Montoya rückblickend im Buch Viaje a las Estepas:

 

„Sie kamen, um den Traktor abzuholen, und als sie auf ihrem Feld ankamen, blieb er stehen. Die Treckerfahrer wussten wohl nicht, wie sie ihn Instand halten mussten und hatten vergessen genug Öl nachzufüllen.“

 

Ebenso schwierig wie die rumänischen Traktoren am Laufen zu halten, ist es die Bauern und Bäuerinnen für eine kollektive Produktionsweise zu gewinnen – für Olivier Delahaye von Iram eines der Haupthindernisse:

„Das Problem in einem kollektiven Unternehmen ist, dass viele Menschen dort nicht unbedingt fanatisch der Arbeit nachgehen, ganz im Gegenteil. Wie bringt man also Menschen dazu, zu arbeiten? Mit ideologischen Argumenten funktioniert das nicht. Am besten lief es dort, wo unter den neu angesiedelten Bauern auch ein früherer Vorarbeiter lebte. Dann war es sehr einfach, der Vorarbeiter legte z.B. fest, 600 Meter Salat pro Stunde zu jäten. Das war eine klare Ansage, die alle verstanden.“

 

Der Mangel an Maschinen und Motivation wird vielerorts mit Arbeitseinsätzen von Freiwilligen ausgeglichen. Nicht nur aus Chile, auch aus Argentinien und Uruguay kommen in den Sommerferien junge Helfer*innen aufs Land. Francisca Rodríguez ist bis heute begeistert von dieser solidarischen Zusammenarbeit:

“Die größte Unterstützung waren die Studierenden und Freiwilligen die aufs Land kamen. Die Freiwilligenbrigaden. Es wurden auch riesige Bauvorhaben umgesetzt. Ich hab mich erst neulich wieder gefragt, was ist eigentlich aus dem Cabildo-Zug geworden? 2000 junge Leute, Studierende und Dorfbewohner arbeiteten damals einen ganzen Sommer lang am Bau eines Staudamms, der eine bessere Bewässerung garantieren sollte. Auch viele weitere Arbeiten wurden von den jungen Leuten übernommen, die aufs Land kamen: der Bau von Schulen, Alphabetisierungskurse und Ernteeinsätze. Die Freude, das Gefühl dabei zu sein, war unvergleichlich. Wir fühlten uns alle wie Helden, bei dem, was wir taten.“

 

Den Held*innen schlägt Ende 1971 neuer Widerstand entgegen. Im Parlament hat die Vertiefung der Agrarreform viele politische Gegner, auch in Reihen der Christdemokraten, Die Dc ist längst in der Opposition aktiv. Zudem gibt es erste Anschläge von paramilitärischen Gruppen, um Produktion und Versorgung zu sabotieren. So zerstören Unbekannte bei einem Brandanschlag im November Tausende Tonnen Lebensmittel, die für den Einzelhandel in Valparaiso bestimmt waren.

 

Am 19. November verkündet die Bewegung der revolutionären Linken (MIR), an ihren Besetzungen für eine „revolutionäre Agrarreform“ festzuhalten. Solidarisch beteiligen sich auch Menschen aus der Stadt, unter ihnen Internationalisten, wie der deutsche Soziologe Klaus Meschkat:

„Ich erinnere mich, dass ich das Leben auf dem Land nie mochte – ich bin ein Stadtmensch. Aber einmal gingen wir nach Temuco, um an einer Aktion des MIR [Bewegung der Revolutionären Linken) teilzunehmen. Wir waren keine Mitglieder, eher Sympathisanten. Ich war mit einem befreundeten Journalisten aus Deutschland unterwegs und gemeinsam machten wir bei der Besetzung einer Hacienda in der Nähe von Temuco mit. Die Nacht verbrachten wir in einem Zelt. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich die Nacht in einem Zelt verbrachte. Und ich werde diese Erfahrung sicher nicht wiederholen. Aber für die gute Sache, wie die Besetzung einer Hacienda, da macht man eben verrückte Dinge.“

 

Am 13. Dezember schlagen regionale Gruppen der Unidad Popular und die Bewegung der revolutionären Linken (MIR) im „Abkommen von Linares“ eine gemeinsame Linie für Enteignungen im Agrarsektor vor. Die Idee: die sofortige Auflösung allen privaten Großgrundbesitzes und die entschädigungslose Kollektivierung aller Agrarflächen ab einer Größe von 40 Hektar. Die Kommunistische Partei erklärt den Vorschlag als nichtig.

 


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Noch mehr Brasilianer…

Anfang 1972 beteiligen sich bereits hunderte internationale Unterstützer*innen an der Agrarreform. Da sind zum Beispiel die Agrarwissenschaftler der University of California, die den Handelsboykott ihrer Regierung zu lindern suchen und ihre Erfahrungen mit einem vergleichbaren Klima einbringen. Oder auch Bewässerungsexperten der israelischen Kibuzbewegung, die im Valle de Choapa ein bis heute genutztes Kanalsystem anlegen. Auch ehemalige internationale Kommilitonen von Luis Salinas beteiligen sich:

„Ich weiß zum Beispiel, dass ich Kollegen in der Agrarschule hatte, die aus Ecuador oder Haiti kamen und später auf den Feldern arbeiteten oder auch in landwirtschaftlichen Institutionen in leitenden Positionen.“

 

Zu diesem Expertenkreis gesellen sich bald mehr und mehr Flüchtende. In Uruguay wird die militante Linke, vor allem die Tupamaru-Guerilla, gezielt verfolgt. In Brasilien nutzen inhaftierte Regimekritiker*innen die Chance, sich ins Ausland abschieben zu lassen – und vor allem die chilenische Regierung zeigt sich bereit Menschen aufzunehmen. Auf dem Land finden viele von ihnen ein neues Zuhause oder gründen gemeinsam mit chilenischen Bauern auf enteigneten Flächen neue Siedlungen. Alicia Muñoz kennt dafür einen besonders Fall, den der Choapinos:

„Die Chapinos waren Bauern aus dem Valle de Choapa. Deshalb tauften sie ihre neue Siedlung Los Chapinos. Und an diesem Ort, einem Dorf mitten im Aufbau, tauchten irgendwann brasilianischen Genossen auf. Die Menschen dort erinnern sich bis heute daran, wie sie auf den Feldern und in der Siedlung mithalfen.“

 

Um die einzelnen Siedlung und ihre Produktion effektiv und landesweit zu organisieren, schlägt die UP dem Kongress vor, Bauernräte einzuführen. Als die Regierung keine Mehrheit findet, bringt sie diese neuen Vertretungen per Dekret auf den Weg. Doch die praktische Einführung blieb konfliktreich, erinnert sich der frühere Agrarminister Jacques Chonchol anlässlich des 50. Jahrestags der Agrarreform in einem Artikel:

 

„Jede Bauerngruppe wollte, dass die ersten enteigneten Gutshöfe jene seien, die sie vorgeschlagen hatten […] Darüber hinaus gab es auch den Fall von Grundstücken, die laut Gesetzes nicht enteignet werden konnten. All dies wurde teilweise durch die Festlegung von Prioritäten in den einzelnen geographischen Gebieten gelöst, unter Vermittlung der entsprechenden Bauernräte. Es gab rechtliche Beschränkungen […] und dennoch konnten die Bauernräte in mehr als 150 Gemeinden des Landes eingeführt werden.“

“La revolución chilena en el campo.”

Mapuche und Kollektivierungen

Auffällig ist bei der Umsetzung aller Reformmaßnahmen, dass in der Regierungszeit der UP scheinbar wenig auf die Belange der Mapuche eingegangen wird. Luis Salinas erklärt warum:

„Die Bevölkerung der Mapuche wird nicht einbezogen, weil die Agrarreform nur Bauern kennt. Also werden auch die Mapuche als Bauern subsumiert und nicht als eigenes Volk, nicht als Ethnie. Es geht um Land, nicht um angestammte Territorien. Auf diese Idee kommt niemand, auch wenn uns das heute logisch erscheint. Niemand schenkte den Gemeinden der Mapuche große Bedeutung.“

 

Das stimmt so nicht ganz. Präsident Allende reagiert kurz nach seinem Amtsantritt schnell auf die Proteste und Vorschläge der Mapuche und bringt ein neues Indigenen-Gesetz auf den Weg. Zudem ordnet er die beschleunigte Enteignung von indigenem Land an. Allein von Dezember 1970 bis März 1971 werden 150.000 Hektar rückübertragen.

 

In diesen Tagen sucht Agrarminister Chonchol im südchilenischen Temuco Rat bei dem tschechischen Anthropologen Milan Stuchlik, der Seit Ende der 1960er in Mapuche-Gemeinden lebt und forscht. Der rät davon ab, die Mapuche-Siedlungen als Agrar-Kollektive zu reorganisieren, das sie jegliche staatliche Einmischung auf ihrem Land vehement ablehnen würden. Am Ende der Kontroverse steht ein Kompromiss, bei dem indigene Kleinbauern im Rahmen von Pilotprojekte die Vorzüge kollektiven Wirtschaften lernen sollen. Begleitet werden diese Initiativen erneute von Bildungsangeboten und dem staatlichen Ankauf von Handstrickwaren in indigenen Gemeinden. Die deutsche Pädagogin, Ilse Schimpf-Herken, die in dieser Zeit im Süden Chile arbeitet, sieht diese Vorgehen rückblickend ambivalent:

„Also es gab dann schon auch eine kommunikative Annäherung. Aber ich bin nicht kritisch genug gewesen, um mich zu fragen was bedeutet eigentlich Analphabetisierung auf Spanisch? Was bedeutet es, die indigenen Frauen so in die Marktwirtschaft zu integrieren? Was macht das mit ihrem Leben, ihrer kulturellen Rolle? An all das habe ich damals nicht gedacht. Wir waren so sicher dass der Sozialismus der richtige Weg ist.“

 

Zweifel am Gelingen der Agrarrefom kommen auch Milan Stuchlik und seine Partnerin Jarka, als sie 1972 einige enteignete Latifundien im Süden Chiles besuchen, zu denen die Unterstützung der staatlichen Landwirtschaftsinstitutionen nicht vordringt. Jarka Stuchlik schreibt:

 

„Während dieser Reisen stellten wir fest, dass in den Latifundien, in denen die Reform bereits angewendet wurde, absolutes Chaos herrschte. Niemand hat geerntet, niemand hat gesät, niemand hat gepflügt. Statt zu arbeiten, waren alle auf dem Kriegspfad. Die Bauern, die davon überzeugt waren, dass sie jeden Augenblick von ihren ehemaligen Herren angegriffen werden würden, patrouillierten Tag und Nacht mit dem Gewehr. Alle waren überzeugt, dass eine Hungersnot vor der Tür steht“.

 

 

Kampf um die Versorgung

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Seit 1972 tobt in Chile ein offener Kampf um die Produktion – und um die Köpfe. So erklärt Am 11. März die nationale Vertretung der chilenischen Großgrundbesitzer, dass das Land 40 Prozent des Weizenverbrauchs durch Importe decken müsse. Die Situation auf dem Land sei katastrophal, die Erzeuger in einer instabilen Situation, „angesichts der Bedrohungen und illegalen Besetzungen der CORA, die einen dauerhaften Verstoß gegen Personen und Gesetze darstellen“. Die Regierung geht nicht direkt auf die Kritik ein, bestätigt jedoch, dass Chile mit einer Inflation zu kämpfen habe.

 

Auch Olivier Delahaye von Iram bekommt mit, wie sich die Versorgungslage langsam verschlechtert.

„Es fehlte doch vieles im Alltag, aber es war nicht so katastrophal wie später in Venezuela, nicht zu vergleichen. Es war oft so: Du sahst auf der Straße eine Menschenschlange, hieltst an und fragtest, wofür die Menschen anstanden, und oft stellte mensch sich einfach dazu.“

 

Auch wenn niemand hungern muss, sorgen solche Situation für Unmut. Handelsboykotte und Sabotage hin oder her, es gab auch selbst gemachte Probleme. Rückblickend empfindet Francisca Rodríguez es als großen Fehler, nicht das spezifische Wissen der Bäuerinnen stärker für den Aufbau selbstverwalteter Strukturen genutzt zu haben.

„Das einzige selbständige Produktionssystem auf dem Land, war die Bestellung eines kleinen Felds, dass vor allem alten Menschen für den Eigenanbau zur Verfügung gestellt wurde. Und dieses Stück Land wurde meist Frauen und Kindern bearbeitet. Mit anderen Worten, die Fraun hatten viel mehr Klarheit über den Produktionsprozess, um die Familie zu ernähren, als die Bauern, die nur auf Anweisung hin arbeiteten. Es gab also Unterschiede und es war ein Fehler der Agrarrefom uns zu ignorieren. Frauen wurden nicht berücksichtigt.”

 

Frauen hatten auch nicht die Chance vollwertige Mitglieder in einer Agrarkooperative zu werden. Der US-Agrarexperte Solon Barraclough macht dafür weniger die regierende UP sondern eher die machistischen Strukturen auf dem Land verantwortlich. In einem Text beschreibt er ein Treffen zwischen einer Regierungsdelegation und einigen Bauern, das letztere mit den Worten beendeten:

 

„Wir haben immer für Don Salvador (Allende) gestimmt, aber wenn er darauf besteht, dass unsere Frauen und Töchter ihre Hausarbeit und Kinder vernachlässigen, um uns dabei zu helfen, unsere Genossenschaft zu führen, sollte er in Zukunft nicht auf uns zählen.”

 

Der gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit und die hat die Unidad Popular nicht. Ständig gilt es neue Krisen zu meistern und zu improvisieren: Versorgungskommissionen, Arbeitseinsätze, Importe aus anderen sozialistischen Ländern. Langfristig soll die internationale Kooperation verbessert werden. Noch am 4. September 1973 werden Dutzende junge Bauern und Bäuerinnen zur Ausbildung an eine sowjetische Agrarschule entsandt.

 

Bis Mitte 1973 hatte die regierende UP 6,6 Millionen Hektar Land enteignet – der Grußgrundbesitz war in Chile nahezu Geschichte, sagt Luis Salinas:

„Der größte Teil der Agrarflächen wurde im letzten Jahr von Allendes Regierung enteignet. Aus diesem Grund war es für die Rechte sehr leicht, nach dem Putsch auf die alten Pfade zurückzukehren, denn der Prozess der Neuorganisation war nicht abgeschlossen, auch wenn es viele Fortschritte gab.“

Putsch, Exil und Gegenagrareform

Übers Radio erfährt auch die chilenische Landbevölkerung schnell, dass am 11. September 1973 ein Militärputsch die zivile Regierung der Unidad Popular gestürzt hat. Gezielt greifen die neuen Machthaber politisch aktive Bauern und Funktionäre der Agrarreform an. Luis Salinas, der gerade ist mit einem Gewerkschaftskomitee unterwegs und inspizierte Kooperativen als er verhaftet wird.

“Sie schoren mir die Haare ab. Nach der Verhaftung wurden wir bis in die Nacht hinein verhört. Schließlich wurden die Bauern freigelassen und die beiden Funktionäre und der Fahrer ins Gefängnis gesteckt und in Isolationshaft gehalten. Ich war zehn Tage lang dort. Dann wurde ich zu einem anderen Regiment gebracht, um dort unter Folter weiter verhört zu werden.”

 

Die französischen Agrarwirte von Iram kommen glimpflicher davon. Doch auch sie bekommen schnell zu spüren, dass bei der Landwirtschaftbehörde ICIRA nach dem Putsch ein anderer Wind weht, erzählt Olivier Delahaye:

„Der neue Direktor von ICIRA, ein junger 24-jähriger Agronom, kam in Begleitung von vier Soldaten auf Arbeit. Bald schickte er einen Brief an alle ausländischen Experten, in dem es schlicht hieß: ‚Sie sind entlassen‘. Was für ein Kündigungsschreiben! Und wir dachten, was tun wir jetzt? Also gehen wir in die Botschaft, zum Glück gab es einen Kulturberater, mit dem wir uns sehr gut verstanden. Dem sagten wir: ‚Hier sind wir und wir würden gerne hier bleiben, um Menschen bei der Flucht zu helfen. Aber wir haben diesen Brief hier bekommen.‘ Und er sagte: ‚Gut, dann müssen wir bluffen.‘ Und dann setzte er einen Brief mit dem gleichen Datum auf in dem stand, der erste Brief sei nicht mehr gültig. Und so blieben wir und verhalfen, überall wo wir konnten, Menschen zu politischem Asyl. Wir blieben drei Monate.“

 

Nachdem die Putschisten anfängliche Pläne eines punktuellen Bombardements von Agrarbetrieben verwerfen, verfolgt die militärisch-zivile Diktatur in den folgenden 17 Jahren um so konsequenter eine langwährende Gegenagrarreform. Ehemalige Führungskräfte werden verfolgt, ermordet oder ins Exil gezwungen, Ein Drittel der verstaatlichte Flächen wird an die latifundistas rückübertragen, ein anderes Drittel an Investoren verkauft – der Grundstein Chiles heutiger exportorientierter Monokulturen. Der Rest der Flächen wird unter den Campesino-Familien aufgeteilt, um sich deren stille Unterstützung zu erkaufen. Ein Ausnahme bilden die den Mapuche zugesprochenen Ländereien, die ihnen entschädigungslos und unter Einsatz von Gewalt fast vollständig wieder entrissen worden.

 

Es dauert eine Zeit, bis sich ein Teil der Landbevölkerung erneut organisiert. Die gewerkschaftliche Arbeit erfolgt nun wieder im Geheimen, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Entscheidenden Anteil daran haben Frauen wie Alicia Munoz und Francisca Rodríguez:

„Ich habe ziemlich lange, also ein paar Jahre klandestine Gewerkschaftsarbeit gemacht, auch in der Organisation. Wir haben viel organisiert, so auch den ersten Hungerstreik der Frauen. Viele Dinge, die wir scherzhaft ‚Heldentaten‘ nannten. Vom Gefängnis aus bastelten die compañeros sogar Medaillen für die Frauen.“

 

Um internationale Unterstützer wie Solon Barraclough fernzuhalten, bezichtigt die Militärjunta die einstigen leitenden Mitarbeiten nachträglich der Unterstützung bewaffneter Gruppen und marxistischer Propagandarbeit gegen die chilenischen Streitkräfte. Haltlose Vorwürfe, die auch dazu genutzt werden Tonnen an Bildungsmaterial zu zerstören. Nichts soll bleiben von diesem gesellschaftlichen Wandel auf dem Land.

 

Dennoch wird die chilenische Agrarreform außerhalb des Landes fortgeschrieben, vor allem in sozialistischen und blockfreien Staaten Afrikas. Dort arbeiten chilenische Agronomen als Berater für Regierungen oder als Experten für NGOs und internationale Organisationen. Auch die Aktivitäten von Iram in Algerien werden 12 Jahre lange von Daniel Rey, einem ehemaligen Cora-Mitarbeiter koordiniert. Und der war nicht er einzige, erinnert sich der damalige Leiter von Iram, Dominique Genty:

„Mein Kontakt zu Chile entstand in der Zeit nach dem Putsch. Es gab damals viele Chilenen, denen wir halfen, nach Frankreich auszureisen. Außerdem hatten wir einen Einsatz in Algerien, bei dem es um landwirtschaftliche Beratung ging. In unserem Team vor Ort gab es acht Chilenen und einem Franzosen. Wir haben recht gut zusammengearbeitet, mit einigen Schwierigkeiten zuweilen, aber insgesamt lief es gut. Das war auch eine Form Chile zu unterstützen.“

PRENSA EXTERNA

Agrarreform Gestern und Heute

Heute, mehr als 50 Jahre nach Beginn der Blumentopfreform ist die chilenische Landwirtschaft weltweit in aller Munde: Wein, Heidelbeeren, Avacados – alles hecho en Chile. Die dörflichen Strukturen sind vielerorts verschwunden. Viele kleine Parzellen wurden in den 1990ern aufgekauft und sind heute Teil einer agroindustriellen grünen Wüste. Auf dem Land der Mapuche stehen heute die Waldplantagen einer Handvoll Unternehmerfamilien, die sich in den Jahren der Diktatur zu arrangieren wussten. Erntearbeiter*innen aus Peru, Haiti und Bolivien schuften als prekäre Saisonkräfte und kleinbäuerliche Familien kämpfen täglich ums Überleben und schimpfen auf importierte Kartoffeln aus Bulgarien.

 

Was also ist von der Agrarreform geblieben? Für die Kleinbauern sei die Situation wieder teils wieder wie in den 1950er Jahren, findet Luis Salinas:

„Die landwirtschaftliche Produktionsweise hat sich gewandelt, aber für die Landbevölkerung hat sich nicht viel verändert. Die alten Zeiten sind zurück. Natürlich gibt es ein paar Verbesserungen, alte Leute haben jetzt Fahrräder oder einen Lastwagen, aber die Lage ist immer noch sehr prekär, sehr schwierig für sie. Das Problem bleiben die geringen Preise, die sie mit dem Verkauf ihrer Produkte erzielen können.“

 

Doch die Regierenden Chiles vertrauen seit dem Ende der Diktatur rechts wie links der unsichtbaren Hand der Märkte, anstatt die landwirtschaftliche Entwicklung im Interesse der Bevölkerung aktiv mitzugestalten. Solon Barraclough, der nach seinem Wirken in Chile noch viele Jahre weltweit für eine gerechte Agrarpolitik kämpfte kritisierte dieses neoliberale Dogma 1999 sehr treffend:

 

„Der Beweis steht aus, dass wirksame Landreformen aus einer ‚marktfreundlichen‘ Politik allein resultieren könnten. Die Übertragung von Landtiteln und die Erleichterung von Immobilientransaktionen zwischen willigen Verkäufern und willigen Käufern verändern nicht die Machtverhältnisse zugunsten der armen Landbevölkerung. In vielen Situationen dürfte eine solche Politik die herrschenden Agrarstrukturen sogar stärken, indem sie Großgrundbesitzern und Spekulanten zusätzlichen Rechtsschutz bietet, während die Verhandlungsmacht der Armen unverändert bleibt oder geschmälert wird“.

 

Zudem gefährde die heute Exportorientierung die Ernährungssicherheit der Bevölkerung, warnt der französische Agronom Yves-Roger Marchant der Ende der 1960er mit Iram ebenfalls einige Jahre in Chile war:

„Im Jahr 2008 gab es in etwa 30 Ländern der Welt politische Unruhen, weil plötzlich der Preis für Reis und Weizen innerhalb weniger Monate um 50 oder 100 Prozent nach oben sprang. Länder, die zu sehr von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, können so in eine extrem gefährliche Situation geraten. Also, ja, Ernährungssouveränität ist ein Konzept, das weiterentwickelt werden muss. Und deshalb ist für mich der Import von Trauben oder Äpfeln aus Chile, auch wenn ich Chile sehr mag, ein Irrweg. Es macht einfach in keiner Hinsicht Sinn.“

 

Ähnlich sehen das Alicia Muñoz und Francisca Rodriquez. Gemeinsam mit weiteren Frauen organisieren sie sich seit Jahren im landesweiten Verein von Campesinas und Indigenas, Anamuri. Ihr Anliegen ist klar. Chile braucht eine neue Agrarreform, sagt Muñoz:

„Wir werden nicht aufgeben. Ganz im Gegenteil. Vielleicht ist es eine Utopien, wie manche sagen. Vielleicht sind wir verrückt, aber dennoch wird der lateinamerikanische und weltweite Kampf weitergehen. Ich halte das für eine ungeheure Hoffnung,“

 

Damit diese Utopie Wirklichkeit wird, betreibt Anamuri eine feministische Agrarschule, organisiert Treffen und setzt sich ein für den Aufbau von Bio-Kooperativen, die für die lokale Bevölkerung produzieren statt für den Export. Es sind kleine Schritte aber Francisca Rodríguez ist sich sicher: es ist der richtige Weg.

anamuri

„Jede unserer Aktionen ist ein Ausbildungsprozess. Jede noch so kleine Aktivität ist ein Entstehungsprozess. Ich glaube, wir haben viel von den Brasilianern gelernt. Wir haben eine Mystik der Organisation aufgebaut, die in all unserer Debatten präsent ist. Wir hüten die Symbole des Lebens. Die sind wichtig, um unseren Planten zu erhalten aber auch um Politik zu machen. Wir sind antikapitalistisch, wir sind antipatriarchalisch und wir sind antiimperialistisch.“

 

Wie wichtig eine wirkliche Alternative ist, zeigt ein Blick auf die Arbeitszeiten von Saisonkräften auf den chilenischen Latifundien des 21. Jahrhunderts. Die gehören heute zum Beispiel ehemaligen Ministern wie Gabriel Ruiz-Tagle. Vor allem Frauen ernten dort wochenlang für den Mindestlohn Trauben, oft mehr als 16 Stunden am Tag, “von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang…“