Milan Stuchlik

(Praga, 1932 – Belfast, 1980)

Sommer 1968. Der tschechische Anthropologe Milan Stuchlik befindet sich gerade auf der Rückreise von Cambridge nach Prag, als er hört, dass sowjetische Panzer seine Heimatstadt besetzten. An jenem 21. August endet auf abrupte Weise der „Prager Frühling“. Die Reformversuche der regierenden Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei sind gescheitert. Statt weiterhin neue Wege zu einem offenen und demokratischen Sozialismus erkunden zu können, bekommen die Menschen das gewaltsamen Veto der Ordnungsmacht aus Moskau zu spüren. Der Kalte Krieg fühlte sich plötzlich noch frostiger an.

Stuchlik ahnt, dass auch seine berufliche Karriere in dieser politischen Eiszeit schnell erstarren würde. Der junge Wissenschaftler hatte in den 1960er Jahren das Kunststück vollbracht, die traditionelle Ethnologie, so wie sie an der Karls-Universität in Prag gelehrt wurde, für zeitgenössische anthropologische Theorien aus Westeuropa zu öffnen. Dabei stand er in engem Austausch mit britischen Kollegen, die in Afrika und Ozeanien zu nicht-westlichen Gesellschaften arbeiteten. Der wissenschaftliche Austausch war mehr als eine Brieffreundschaft. Obwohl Stuchlik kein Parteimitglied war, konnte er regelmäßig ins kapitalistische Ausland reisen. Nach der sowjetischen Intervention schien eine Fortsetzung dieses kritischen Ost-West-Dialogs jedoch mehr als fraglich. Denn nach und nach wurden alle noch verbleibenden Löcher im „Eisernen Vorhang“ geschlossen…

In diesen wenig hoffnungsvollen Tagen, hört Stuchlik zufällig von einem Forschungsabkommen zwischen der Universität Concepción in Chile und seiner Universität in Prag. Diese Vereinbarung sah auch Besuch tschechoslowakischer Anthropologen in indigenen Mapuche-Gemeinden vor. Das war eigentlich gar nicht sein Thema, sondern die Reaktion von Stammesgesellschaften auf Modernisierungsprozesse. Egal, Stuchlik zögert keinen Moment und reist kurzentschlossen in ein ihm unbekanntes Land, in jenes Chile, dass sich gerade in einem sozialen Transformationsprozess historischen Ausmaßes befindet.

Stuchlik kommt Ende 1968 in Chile an und würde bis zum Militärputsch im Jahr 1973 bleiben. Während dieses Aufenthalts, begleitet von seiner Frau Jarka und ihren beiden Kindern, hält er sich von der Hauptstadt fern und konzentriert sich ganz auf sein Ziel, die Sozialstruktur der Mapuche-Gemeinden im Verhältnis zum chilenischen Staat zu analysieren. Er lebt in der Stadt Cholchol, im Herzen des Mapuche-Territoriums. Von hier aus führt er Feldforschungen im „Coipuco-Reservat“ in Cautín durch. Außerdem unternimmt er sporadische Reisen nach Temuco und Concepción. Die Provinz Cautín ist einer der Orte, an dem die Agrarreform besonders stark zu spüren ist. Stuchlik begegnet hier einer gut organisierten Landarbeiter*innen-Bewegung, der sich auch einzelne Mapuche-Gemeinden angeschlossen haben.

Vor allem die Ideen der Bewegungen der Revolutionären Linken (MIR) haben in der Region großen Einfluss. Ständig ist die Rede davon Bauernräte zu gründen Großrundbesitzer zu enteignen und das angestammte Land der Mapuche zurückzufordern. Es ist ein Ort der Mobilisierungen „von unten“, die von Beginn an in Konflikt mit der Politik der bis 1970 regierenden Christdemokraten stehen. Doch die Spannung halten auch nach dem Wahlsieg des Linksbündnisses der Unidad Popular an, das auf „langsame Reformen“ setzt. Um ernsthafte Probleme zu vermeiden, besucht Landwirtschaftsminister Jacques Chonchol Anfang 1971 persönlich die Region. Er trifft sich mit Autoritäten der Mapuche-Gemeinden und versucht die Situation zu beruhigen. Es kommt auch zu einem Treffen mit Miguel Enriquez, dem damals bekanntesten Vertreter der MIR. Doch alle Versuche, eine Einigung zu erzielen und die Landbesetzungen zu stoppen, scheitern. Die Regierung ist gezwungen, sich auf dem Mapuche-Territorium irgendwie zu arrangieren.

Nur kurze Zeit nach der Stippvisite von Chonchol tritt in Cautín das Direktorium des staatlichen Unternehmens CORA zusammen, das mit der Umsetzung der Agrarreform betraut ist. Es wird entschieden 14 enteignete Grundstücke mit einer Gesamtfläche von 1.468 Hektar an die örtlichen Mapuche-Gemeinden zurückzugeben. Stuchlik verfolgt diesen Prozess mit großen Interesse. Für ihn wir klar, dass die Regierung Salvador Allendes keine einheitliche Agrarpolitik verfolgt und die in der Unidad Popular vereinten linken Parteien sehr unterschiedliche Positionen haben. Die Lösung der sogenannten „Mapuche-Frage“ sieht Stuchlik dabei als ein Schlüsselthema. Er ist überzeugt, dass es eine informierte Debatte braucht, die sowohl konkrete Fakten über die „zeitgenössische Mapuche-Gesellschaft“ als auch ihrer historischen Entwicklung einbezieht.

1971 wird Stuchlik auf Chonchols Wunsch hin Berater der CORA und analysiert fortan die Besonderheiten der Mapuche-Kultur und ihrer Selbstregierung. Darauf aufbauend lieferte er Vorschläge für ihre „integrale Entwicklung“. Es sei wichtig, zuzuhören um zu verstehen, „dass es sich bei der Besetzung von Ländereien nicht um einfache Racheakte handelt, sondern, dass diese Aktionen mit der Idee der Rückgewinnung ihres usurpierten Territoriums und der Lösung eines ‚historischen Rechtsstreits‘ mit dem chilenischen Staat verbunden sind.“ Seine Argumente tragen dazu bei, die Dringlichkeit eines „Indigena-Gesetzes“ auf die politische Tagesordnung zu bringen, das die Regierung noch im selben Jahr in Angriff nimmt.

Aber Stuchlik ist eher Sozialwissenschaftler als politischer Agitator. So ist er anfangs vor allem mit dem Aufbau eines Studienzentrum der regionalen Realität (CERER) beschäftigt. Von hier aus forscht er und stößt unermüdlich Debatten über die Situation der indigenen Landbevölkerung an. 1971 gründet er den Studiengang Sozialanthropologie an der Katholischen Universität von Temuco und wird Professor an der Universität von Concepción (UDEC). Das akademische Miteinander ist zu diesem Zeitpunkt recht angespannt. Der große Einfluss der MIR auf die Studierenden, die offen fordern, einen aufständischen Weg einzuschlagen, macht ihm das Leben nicht leicht. Der schwelende Konlfikt eskaliert, als die Revolutionäre Bauernbewegung (MCR) auf seine Arbeit aufmerksam wird und fortan versucht, seine guten Kontakte zu den Lonkos (indigenen Gemeindevorstehern) in Coipuco für ihre politischen Zwecke zu nutzen. So drängen eine studentische Mitglieder der MCR ihn während eines Seminars dazu, die Mapuche zur Gründung einer Guerillagruppe zu überreden. Stuchlik ist nachdrücklich verärgert und vertreibt sie mit folgenden Worten aus dem Unterrichtsraum: „Ich mache Anthropologie, keine Revolution!“ Er ist überzeugt, dass diese „weißen, kleinbürgerlichen Revolutionäre“ niemals das Vertrauen der Mapuche gewinnen würden. Darauf hin wird Stuchlik beschuldigt, die rechte Opposition zu unterstützen. Aber er ändert weder seine Haltung noch seine Meinung. Vielmehr arbeitet er das gesamten Jahr 1972 verbissen daran, dem CERER mehr Qualität zu verleihen. Gemeinsam mit dem Psychiater Martin Cordero organisiert er Seminare und berät Studierende bei ihren Doktorarbeiten.

Anfang 1973 setzt das „Revolutionäre Komitee“ der Universität zum nächsten Angriff an. Diesmal senden sie einen Brief an die Tschechoslowakische Kommunistische Partei und beschweren sich über „Dr. Stuchliks geringes revolutionäres Engagement“. Die Dinge verkomplizieren sich, und die tschechoslowakische Botschaft besteht darauf, dass die Stuchliks sofort zurückkehren. Doch die sind entschlossen zu bleiben, auch wenn ihre Aufenthaltsgenehmigungen inzwischen abgelaufen sind. Noch im Dezember 1973, drei Monate nach dem Militärputsch, halten sie sich in Chile auf. Milan Stuchlik wirkt in jenen Tagen weiter im CERER und versucht trotz der zunehmenden Gewalt und Repression, die immer mehr in die indigenen Gemeinden und den akademischen Alltag eindringen, so lange es geht die kontinuierliche Forschung im Territorium der Mapuche fortzusetzen.

Doch eigentlich sind mit dem militärisch-zivilen Putsch im September 1973 längst alle Perspektiven für den Aufbau kritischer Sozialwissenschaften zerstört. Stuchlik wird von der Militärjunta als Zeuge geladen. Ihm droht eine Gefängnissafe. Dank der Intervention eines noch amtierenden Uni-Rektors kommt er frei und flieht mit allem was vom CERER noch übrig ist. Viele Kolleg*innen und Freund*innen dagegen werden verfolgt, inhaftiert oder getötet. Wer es schafft, geht ins Exil. Die Stuchliks verbringen noch ein letztes Weihnachtsfest in Chile. Dann ergattern sie freie Plätze für eine Überfahrt auf dem italienischen Frachter Rossini, der sie von Valparaiso über das ecuadorianische Guayaquil und den Panamakanal bis ins französische Cannes bringt.

Von dort reist die Familie weiter nach Großbritannien. Milan Stuchlik erhält zunächst einen Lehrauftrag als Professor in Cambridge, danach arbeitet er am Lehrstuhl für Sozialanthropologie an der irischen Queen’s University Belfast. Hier wirkt er zunächst als Dozent und später als Professor, bis zu seinem vorzeitigen Tod im Jahr 1980. Seine Schriften über Chile und die Mapuche-Frage wurden in Chile in dem Buch Rasgos de la sociedad Mapuche contemporánea (1974) veröffentlicht. 1976 gibt er einen Sammelbuch mit dem Titel Life on a Half Share heraus, dessen spanische Version erst 1999 als La vida en mediería: mecanismos de reclutamiento social de los mapuches erscheint. Erst einige Jahre nach seinem Tod, publiziert seine Frau, Jarka Stuchlik, das Buch Flores de Cobre (Kupferblumen) in dem sie ihre äußerst lesenswerten Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre in Chile zusammengetragen hat.

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