Armando Cassigoli Perea

(Santiago de Chile, 1928 – Mexiko-Stadt, 1988)

Armando Cassigoli wächst auf in einem Santiago der Gegensätze und rasanten Veränderungen. Die Gesellschaft ist in Bewegung – und die Beziehung seiner Eltern ist dafür das beste Beispiel. Sein Vater, ein italienischer Einwanderer, spielt als Torwart für den chilenischen Proficlub Audax Italiano. Seine Mutter stammt dagegen aus einer wohlhabenden kolumbianischen Familie. Ihrem Sohn Armando lassen die beiden viele Freiheiten. Und der nutzt diese Räume äußerst schöpferisch, lebt ein poetisches Delirium.

Santiago erlebt in den 1950er Jahren eine Explosion des intellektuellen, politischen und künstlerischen Lebens. Viele folgende künstlerische Strömungen würden von diesem Aufbruch zehren: experimentelles Theater, Musik und eine Hinwendung der „Schönen Künste“zur Geschichte des Landes. Eine ganze Generation rebellischer Schriftsteller*innen und Dichter*innen verändert die kulturelle Physiognomie Chiles nachhaltig. Für sie gibt es, wie für Armando Cassigoli, nur diese eine, unvermeidliche Aktionsform: die Poesie.

Ganz heimlich bahnt sich in jenen Jahren eine Revolution an, die zwei Jahrzehnte später, in der Regierungszeit der Unidad Popular (1970-1973) tatsächlich stattfindet. Die dichterischen Darbietungen nehmen diesen Triumph vorweg. „Ich denke, dass Chile in den 1950er Jahren ein poetisches Leben führte wie kein anderes Land der Welt,“ erinnert sich der chilenische Künstler und Publizist Alejando Jodorowski. „Die Poesie durchdrang alles: die Lehre, die Politik, das kulturelle Leben. Die Menschen lebten versunken in dieser Poesie.“

Cassigoli schafft für diese Welt eine ganz eigene Bühne. In der Nähe des Stadtparks Parque Forestal in Santiago, renoviert er eine Alte Mühle in der poetische Reisen stattfinden. Der Ort zieht zahllose Künstler*innen an: Enrique Lihn, Margarita Aguirre, Etienne Froie, Jorge Onfray, Raquel Jodorowski, Teresa Hamel, José Echeverría, Jorge Edwards, Alejandro Sieveking und viele andere. Mit seiner unermüdlichen Energie und Sympathie wird Armando Cassigoli zu einem großzügigen „Ermöglicher“ für viele andere Kunstschaffende und Kollektive. Als engagierter Student der Philosophie und Psychologie an der Universität von Chile gibt er 1959 eine Anthologie mit dem Titel Cuentistas de la Universidad (zu Dt. in etwa: Geschichtenerzähler der Universität) heraus, in der er erste Werke von Antonio Skármeta, Cristián Huneeus, Grínor Rojo, Jorge Teillier, Poli Délano, Patricio Guzmán u.a. versammelt.

Armando Cassigoli ist der lebende Beweis dafür, dass die Stadt den Dichterinnen und Dichtern gehört. Seine Freundin Virginia Vidal, eine prominente chilenische Schriftstellerin und Journalistin, erinnert sich an einen ganz besonderen Abend, als Armando Cassigoli während einer Theateraufführung im Molino sehr aufgeregt mit einem rothaarigen Mädchen ankam und rief: „Wir heiraten, wir heiraten!“. Sich an den Händen haltend, rennen sie die Treppen rauf und runter. Das Mädchen ist Magdalena Salamon, gebürtige Ungarin, die während des Zweiten Weltkriegs mit ihren Eltern und Brüdern nach Chile geflüchtet ist. So entgehen sie dem Schicksal der halben Million ungarischer Juden, die deutsche Besatzer und ihre willigen Helfer*innen damals in Vernichtungslager deportieren. In den Zügen der Operation Margarethe werden ihre Großeltern und Onkel in die Gaskammer von Bergen Belsen und Auschwitz-Birkenau gebracht. Magdalena arbeitet wie Cassigoli als Professorin für Philosophie. Die beiden lernen sich am Pädagogischen Institut kennen. Bald würde Magdalena entschiedene Essays über das Werk Antonio Gramscis schreiben. Und Armando sollte – allem vorherrschenden Antijudaismus in Chile zum Trotz – ein „nicht-jüdischer“ Talmund-Experten werden.

1960 erscheint sein erster Roman Ángeles bajo la lluvia, für den er im folgenden Jahr den Premio Municipal, den Literaturpreis der Gemeinde von Santiago erhält. Nach einer Italienreise veröffentlichte Cassigoli vier Jahre später den Kurzroman Cuadernos de un hombre asustado (Notizbücher eines verängstigten Mannes). 1971 folgt der Erzählband Pequeña historia de una pequeña dama (Kleine Geschichte einer kleinen Dame), dessen Humor und tiefe Ironie ihm viel Kritik einbringen. Dem chilenischen Schriftstellerverband (SECH) ist er bereits in den späten 1950er Jahren beigetreten. 1973 übernimmt der den Vorsitz dieser Institution. Dort fungiert Cassigoli auch als Sekretär der Zeitschrift SECH und arbeitet mit etablierten Dichtern wie Pablo Neruda, Pablo de Rokha und Nicanor Parra zusammen. Er fördert jedoch auch junge und bis dahin unveröffentlichte Schriftsteller*innen.

Neben seiner intensiven schriftstellerischen Tätigkeit Mitte der sechziger Jahre artikuliert sich Cassigoli auch zunehmend politisch. Seine Positionen werden zunehmend radikaler und performativer: Er wendet sich der Revolutionären Kommunistischen Partei (RCP) zu, die unter unter anderem von seinem Philosophenfreund Jorge Palacios gegründet wurde. Zugleich engagiert er sich in der Gruppe Espartaco, die maoistische Thesen vertritt. Als Mitglied von Espartaco unterhält er enge Beziehungen zur 1965 entstandenen Bewegung der Revolutionären Linken (MIR). Im Gedächtnis geblieben sind bis heute seine Debatten mit Miguel Enríquez, einem der führenden Köpfe dieser Partei. 1969 reist er als chilenischer Delegierter nach Kuba, wo er am „Dritten Symposium gegen den Yankee-Völkermord in Vietnam und dessen Ausweitung auf Laos und Kambodscha“ teilnimmt.

Der Wahlsieg der Unidad Popular 1970 ruft unter den chilenischen Philosophen ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Juan Rivano zum Beispiel, legt als Reaktion auf den beginnenden politischen Wandel sein Amt an der Universität von Chile nieder. Andere, wie Humberto Giannini oder Jorge Millas, suchen sich lieber Lehraufträge an anderen Universitäten, überwältigt von der plötzlichen Dominanz des Marxismus. Wieder andere verlassen sogar das Land. Für Cassigoli hingegen – wie auch für Palacios – sind die 1.000 Tage währende Regierungszeit der Unidad Popular Jahre des Booms. Beide erfreuen sich großer Beliebtheit, vor allem bei jungen Menschen. 1972 wird Cassiggoli sogar zum Dekan der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaften am Pädagogischen Institut der Universität von Chile ernannt. Die Zeitschrift Quinta Rueda würdigt ihn als einen jener Autoren, die „der Realität ins Auge sehen“. Tatsächlich regt Cassigoli zusammen mit vielen Freund*innen und Kompliz*innen ebenso spannende wie heftige Debatte an. Es ist ein Versuch, philosophisch über den gegenwärtigen Augenblick nachzudenken. Als Meister des Wortes, Vorläufer kybernetischer Theorien, Kämpfer für die Idee und das Lachen, entgeht Cassigoli allen Klassifizierungen und inszeniert seine Auftritte gekonnt als politischen Karneval.

Im Zuge des Militärputschs 1973 wird Cassigoli seines Amtes als Dekan enthoben. Verfolgt, sucht er Zuflucht in Mexiko. Dort nimmt er seine Lehrtätigkeit wieder auf und veröffentlicht 1976 den Sammelband Antología del fascismo italiano (Anthologie des italienischen Faschismus) und 1982, zusammen mit Carlos Villagrán, La ideología en sus textos (Die Ideologie in ihren Texten). Das Exil birgt für ihn schwere Momente, er erkrankt und stirbt in Mexiko noch ehe sein Einreiseverbot nach Chile aufgehoben wird. Trotzdem verliert er nie die ihm eigene humorvolle und respektlose Ader. Ein guter Freund von ihm erinnert sich an den gemeinsamen Besuch des lateinamerikanischen Schriftstellerkolloquiums in Viña del Mar im Jahr 1969. Viele Menschen aus der ganzen Welt kamen zusammen und Cassigoli von der SECH gehörte zu den Organisatoren. Während des Eröffnungsdinners näherte er sich ohne Umschweife einem Tisch, an dem mehrere chilenische Schriftsteller*innen saßen, und sagte mit leiser Stimme: „Ich habe den Auftrag, für die Auflösung dieser Veranstaltung zu werben“. Wie aus einem Munde fragten alle verstört: „Aber warum?“ Und Cassigoli antwortete verschmitzt: „Einfach darum und im Guten.“ Dann ging er lächelnd zum Nachbartisch.

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