Aníbal Quijano

(Yanama, 1930 – Lima, 2018)

Aníbal Quijano kommt 1966 nach Chile, um bei der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) zu arbeiten. Zurück in Peru lässt er hitzige Debatten über den Zustand des Landes, Kontroversen über Realität in den Gefängnissen, langjährige Publikationsprojekte und eine bedeutende theoretische Produktion. Hinter ihm liegt auch ein erbitterter Streit mit dem Schriftsteller José María Arguedas, dessen Selbstmord 1969 ihre Differenzen auf traurige Weise beendet.

Es lohnt sich, den Streit genauer zu betrachten, um den Denker Quijano kennenzulernen. Für ihn steht damals unumstößlich fest, dass die peruanische Gesellschaft aus einer Vermischung verschiedener Kasten und sozialer Klassen hervorgeht, ein Prozess, der von der hybriden Figur des „Cholo“ verkörpert wird. Deshalb würden „Cholo-Indigenas“, Figuren aus zwei Welten, der Bauernbewegung letztendlich ihre Hegemonie aufzwingen. Völlig überzeugt von der eigenen Hypothese polemisiert er rüde gegen die „indigene“ Position Arguedas. Dieser solle angeblich auch seinen 1964 erschienenen Roman Todas las Sangres dazu genutzt haben, um Ideen einer indigenen Re-Identifikation und neuen Identitätsfindung populär zu machen. In jedem Fall sieht Arguedas darin den Schlüssel zum Verständnis der Moderne und der Urbanisierungsprozesse Lateinamerikas. Quijano wiederum, der sich ebenfalls mit dem „weißen Blick“ auf den Subkontinent auseinandersetzt, schlägt eine komplexere Sicht der Mestizengesellschaften vor und kritisiert die kulturelle und ideengeschichtliche Abhängigkeit von starren Kategorien wie „Indigene“ und „Weiße“. Es sei das koloniale System, welches diese beiden Bevölkerungsgruppen produziert hätte. Diese Ethnisierung sieht er als entscheidend an, um gewaltsam Überlegenheits- und Unterordnungsverhältnisse zu steuern, welche koloniale Kapitalisten für ihre Herrschaft benötigten. Und mehr noch: Quijano ist überzeugt, dass diese kulturell etablierten Hierarchien, eingeschrieben in alltägliche Denk- und Lebensweisen bis heute nachwirken. In Peru bleibt er mit dieser Sicht lange unverstanden, auch wenn er so bereits in den 1960er Jahren einen der zentralen Aspekt für etwas herausarbeitet, das später „Kolonialität der Macht“ genannt werden würde.

Sein Umzug nach Chile ermöglicht es Quijano sich bald auch intensiver an aktuellen Debatten über die Grenzen seines Heimatlands hinaus zu beteiligen. In den 1960er und 1970er Jahre dreht sich in den lateinamerikanischen Sozialwissenschaften alles um die Frage der Entwicklung. Intellektuelle, Soziologen und Ökonomen versammeln sich dabei hinter zwei konkrären Perspektiven: Modernisierungstheorien (inspiriert vom Strukturfunktionalismus) und Imperialismustheorien (auf marxistischen Prämissen basierend). Aus letzteren gehen nach und nach verschiedene Spielarten der so genannten „Dependenztheorie“ hervor. Chile ist für diese Theorieproduktion von entscheidender Bedeutung.

Ab Ende der 1960er Jahre und während der Regierung der Unidad Popular (1970-1973) entwickelt sich Santiago zu einem Wissens- und Forschungszentrum. Wichtige internationale Organisationen, wie die 1948 gegründete CEPAL oder auch die 1957 entstandene Lateinamerikanische Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) haben hier bereits seit längerem ihren Sitz. Erweitert wird das intellektuelle Feld etwas später um zwei universitäre Forschungszentren: das 1967 an der Katholischen Universität geschaffene Studienzentrum der nationalen Realität (CEREN) und das bereits zwei Jahre zuvor entstandene Zentrum für sozioökonomische Studien (CESO) an der Universität von Chile. Hier analysieren chilenische und internationale Akademiker*innen, wie sich die weltweite kapitalistische Expansion auf nationale und regionale Realitäten auswirkt. Für Quijano öffnet sich eine intellektuelle Welt voller diskussionswütiger Persönlichkeiten wie Theotônio dos Santos, Ruy Mauro Marini, Vânia Bambirra, Enzo Faletto, Celso Furtado, Armand und Michèle Mattelart, Emir Sader, Martha Hartnecker, André Gunder Frank, Lelio Basso, Roger Vekemans, Fernando Henrique Cardoso und vielen anderen.

Als er bei CEPAL ankommt, sieht er seine Berufung schnell darin, die dort gängige Konzeption von „Marginalität“ zu hinterfragen, die seit Mitte der 1960er Jahre das Denken der Wirtschaftskommission prägt. Der dualistische Fokus, der auf der Grundannahme eines unvermittelten Nebeneinanders von Gesellschaftsformen aus verschiedenen Zeiten fußt, scheint ihm sowohl theoretisch als auch politisch problematisch. So würden sich kaum Zusammenhänge zwischen der sozialen Situation „Marginalisierter“, also randständiger Existenzen, und den strukturellen Tendenzen der Gesamtgesellschaft erklären lassen. Das „Marginale“ wird nur auf individueller Ebene gedeutet – oder schlicht als Wurmfortsatz der allgemeinen Modernisierung verstanden. So zumindest argumentieren zwei der einflussreichsten Autoren dieser Zeit: der Argentinier Gino Germani und der in Chile lebende belgische Jesuit Roger Vekemans (damals äußerst aktiv im Jugendverband Acción Católica). Quijano hält dagegen: Marginalität sei ein strukturelles Problem, das auf die indirekte, fragmentarische, untergeordnete und instabile Eingliederung wichtiger Bevölkerungsgruppen in die kapitalistische Produktionsweise zurückzuführen sei.

1970, als Salvador Allende die chilenischen Präsidentschaftswahlen gewinnt, steht diese Kontroverse plötzlich ganz oben auf der Tagesordnung. Denn erklärtes Ziel, des nun regierenden linken Bündnis der Unidad Popular, ist es, kapitalistische Abhängigkeiten zu durchbrechen und zum Sozialismus überzugehen. Aus diesen Tagen ist überliefert, wie Quijano oft eilig den Sitz der CEPAL verließ, um rechtzeitig bei Arbeitstreffen im CESO zu erscheinen, wo dringende Fragen wie Marginalität, Abhängigkeit und Entwicklung aus marxistischer Perspektive diskutiert wurden.

Von der Unidad Popular erlebt Quijano vor allem den euphorischen Aufbruch des ersten Jahres mit. Ende 1971 kehrt der Soziologe nach Peru zurück, wo er an der Gründung der Revolutionären Sozialistischen Bewegung (MRS) mitwirkt. 1973, unmittelbar nach dem Militärputsch gegen die Regierung Allendes, gelingt es vielen chilenischen Bürger*innen auf dem Landweg nach Peru zu flüchten. Quijano beteiligt sich aktiv an Solidaritätskampagnen und der Aufnahme von Verfolgten. Monate später würde er selbst ins Exil gezwungen werden: Das Militärregime unter José Velasco Alvarado (1968-1975) verhängt 1974 eine Zensur gegen seine „zu kritischen Ideen“, die er in der Zeitschrift Sociedad y Política veröffentlicht.

Um zu verstehen, warum Quijano bei General Velasco Alvarado in Ungnade fällt – wo dieser doch lange als „progressiver Verbündeter“ der Regierung Allende auftritt –, lohnt ein Blick in die vierte Ausgabe von Sociedad y Política. Ganz in der Tradition von José Carlos Mariátegui – dem großen peruanischen Denker des 20. Jahrhunderts – benennt Quijano in seinem Beitrag einige theoretische Instrumente um die lateinamerikanische Realität besser zu verstehen, so z.B. die Kategorie struktureller Heterogenität und Abhängigkeit. Damit versuchte er, eine „Kombination und Gegenüberstellung von Strukturmustern, deren Ursprung und Natur sehr unterschiedlich waren,“ zu beschreiben. Er setzt diverse gesellschaftliche Phänomene miteinander in Bezug und berücksichtigt dabei auch Widersprüche, die eine „Struktur der sozialen Macht“ bedingen – darunter auch auch Regierungen wie die von Velasco Alvarado, die vermittels eines Staatsstreichs an die Macht kamen…

Quijano wird oft als Vertreter der Dependenztheorie gelesen. Dabei entfernt er sich oft von deren Prämissen, die teils auf einfache Erklärungen nach dem Ursache-Wirkung-Muster setzen und gesellschaftliche Missstände einseitig dem Imperialismus und abhängigen Entwicklungsmodi zuschreiben. In Quijanos Schriften wird hingegen die ungeheure Komplexität nachvollziehbar, die der gesellschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas eigen ist. Deshalb lehnt er das simplistische Schema eines dominanten Zentrums und einer abhängigen Peripherie ab, da so vielfältige Faktoren sogenannter „Unterentwicklung“ ausgeblendet würden. Quijano fügte seinen Theorien kulturelle Elemente hinzu, wie zum Beispiel „Systeme der inneren Herrschaft“. Zugleich ist er ein entschiedener Kritiker des eurozentristischen Blicks auf das soziale Leben: Dieser sei nicht nur eine Art, die Welt zu sehen, sondern er beziehe sich auf das Denken als solches. Quijano benutzt Klassifikationen wie indigen, weiß und mestizisch, um über die rassistische Matrix des Kapitalismus nachzudenken. Seine Theorien gingen jedoch nicht so weit, auch Geschlechterverhältnisse einzubeziehen.

Quijano wurde als Ehrendoktor von Universitäten in Peru, Venezuela, Costa Rica und Mexiko gewürdigt. Er wirkte als Gastprofessor an verschiedenen Universitäten in der ganzen Welt. Während seines langen Lebens veröffentlichte er viele Bücher, Artikel und arbeitete als Herausgeber von Zeitschriften, von denen die wichtigste und am längsten erschienene Sociedad y Política ist. Auf den tausendenden Seiten ihrer Ausgaben bündeln sich fast siebzig Jahre lateinamerikanische Geschichte. Bis zu seinem Tod im Jahr 2019 besuchte Qijano regelmäßig Chile, wo er viele Freundschaften und berufliche Kontakte unterhielt.

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